Irrliebe
Kopfschmerzen, die an die Stelle der nagenden Zweifel getreten waren, würden schnell wieder verfliegen.
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Stephan blieb am Vormittag des nächsten Tages zu Hause. Er pflegte das Privileg der Selbstständigkeit, nach Belieben seiner Kanzlei fernzubleiben, wenn er keine festen Termine hatte. Auch ihn machte der Tod von Dominique Rühl-Brossard nachdenklich, doch im Gegensatz zu seinem Widersacher Löffke, der sich durch die Unschuldsbeteuerungen der Gräfin getäuscht fühlte und sich flüchtig über seine Leichtgläubigkeit geärgert hatte, gründeten Stephans Zweifel an seiner Arbeit im umgekehrten Gedanken. Er fragte sich, ob er – nicht zuletzt veranlasst durch Dominiques burschikoses und häufig verächtliches Gebaren – ihr gegenüber nicht vielleicht zu kritisch gewesen und sich durch ihr unsympathisches Wesen nicht einem Automatismus folgend gegen sie positioniert hatte und deshalb ihre Darstellung eher in Zweifel zog, als er es bei einem Mandanten getan hätte, der ihm sympathisch war. Ylberis Argumentation war bestechend und durchgehend nachvollziehbar. Sie litt, soweit man in diesem Zusammenhang von einem Fehler sprechen konnte, lediglich daran, dass die auf den unbekannten M mit zwingend erscheinender Logik hinauslaufenden Schlussfolgerungen Ylberis einen Täter erforderten, der gänzlich außerhalb des Lebensumfeldes von Dominique zu stehen schien. Stephan hatte von dem Staatsanwalt noch in der Nacht telefonisch die letzten Ermittlungsergebnisse erfahren, und der Umstand, dass es im Umfeld von Dominique Rühl-Brossard keine Person zu geben schien, die der bewusste M hätte sein können, störte. Dominique mochte, wenn Ylberis Theorie zutraf, Franziska über eine Chiffreanzeige als mehr oder weniger zufälliges Opfer gefunden haben. Aber es schien mehr als zweifelhaft, dass es ihr auf diesem oder anderem Wege gelungen war, jenen M zu finden, der folgsam ihren Plan ausführte und brillant ihren Ehemann Pierre spielte, der dann Franziska Bellgardt töten sollte. Es gab nicht einen Anhaltspunkt dafür, wann und wie Dominique diese Person gesucht und gefunden haben könnte. Stephan wusste, dass Ylberi insgeheim dieselben Zweifel hegte und das mysteriöse rote Fahrrad ein Faktor war, der die ansonsten aufgehende Gleichung fast wohltuend störte.
An diesem Vormittag, als Marie in der Schule Unterricht gab, nachdem das Treffen mit Ylberi beendet war, ordnete Stephan ihren gemeinsamen Haushalt, stellte Schuhe in den Schuhschrank, den Marie sonst nicht benutzte, heftete Rechnungen ab, die Marie gewöhnlich unbeachtet auf dem Schreibtisch liegen ließ, entsorgte leere Duschgeltuben, die nach Verbrauch im Badezimmer verblieben waren, und brachte das Altpapier, das sich über Wochen in einer Küchenecke angesammelt hatte, in den Container. Stephan verstand diese Tätigkeiten, die er im regelmäßigen mehrwöchigen Turnus vornahm, als sich stets wiederholenden Versuch, eine Grundordnung im Haushalt herzustellen, die an seine oberflächliche Sorgfalt in seiner früheren Wohnung erinnerte und zugleich dem schleichend wachsenden Chaos Einhalt gebieten sollte, das an Maries frühere Gepflogenheiten erinnerte. Stephans wiederkehrende Räumdienste korrigierten ihre unterschiedlichen Lebensgewohnheiten und waren die Wiederherstellung einer nötigen Balance. Gerade heute wirkte das Ordnen wie ein sichtbarer Schnitt in einer Geschichte, deren Bestandteil Marie und Stephan geworden waren und mit Franziskas Idee, Marie als Briefkasten der für sie bestimmten Antworten auf die Chiffre-Anzeige zu benutzen, ihren unheilvollen Anfang genommen hatte. Stephan ordnete auch die wahllos auf Maries Schreibtisch übereinander liegenden Papiere im gemeinsamen Arbeitszimmer. Sie hatte die Kopien der Ausdrucke von Pierres vermeintlichen Briefen an Franziska und Dominique in eine Klarsichthülle gesteckt. Dahinter befand sich Dominiques an 0829 gerichtetes Schreiben, mit dem sie suggerierte, den sich hinter der Chiffrenummer verbergenden Adressaten suchen und um Hilfe bitten zu wollen. Ganz unten befand sich das Schreiben, das jemand an 0829 gesandt hatte, nachdem Franziska auf die erste Zuschrift dieses Absenders ersichtlich nicht geantwortet hatte. Stephan las den Brief, den Marie am 17. Oktober von der Kult-Mund-Redaktion erhalten hatte, ein zweites Mal:
Hallo! Ich bin traurig, dass Du Dich bei mir nicht gemeldet hast. Habe ich Dich mit meinen Worten nicht berührt? Habe ich in Dir nicht die Lust auf den geheimen Zauber
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