Irrliebe
Inszenierung des M in seiner Rolle als Pierre Brossard. Nach außen hin lässt sich also eine intakte glückliche Beziehung zu Franziska dokumentieren. Für Dominique wird es nun Zeit, den zweiten Akt einzuleiten: Die Beziehung zwischen dem vermeintlichen Pierre und Franziska muss zerstört werden. Sie schreibt auf dem Computer, den nur sie und Pierre nutzen, am 15. Oktober um 14.14 Uhr den Brief zu 0829, den wir alle kennen und der nie verschickt wurde. Der Text wird auf dem Computer sofort wieder gelöscht, vorher aber noch ein Ausdruck gefertigt, den Dominique vermeintlich zufällig später findet. Auch M muss in seiner Theaterrolle nun umschwenken. Er provoziert Streit mit Franziska. Scheinbar alltäglich und deshalb umso raffinierter führt er eine Auseinandersetzung mit Franziska auf dem Bahnsteig in Kurl auf, die sich dadurch auszeichnet, dass er vor den Augen des Lokführers eines an diesem Tage zufällig langsam fahrenden Zuges eine Coladose ins Gleis schießt und diesen Vorfall damit ebenfalls erinnerbar macht. Nicht zufällig stehen Franziska und M zu diesem Zeitpunkt gut erkennbar im Schein einer der hell leuchtenden Bahnsteiglampen. Dann kommt der Zug, den Franziska gewöhnlich von der Arbeit nach Hause nimmt. M ist bei ihr, der Streit wird vor der Schaffnerin fortgesetzt, die sich – wie von M kalkuliert – ebenfalls erinnern kann. Der Zug ist, wie meist um diese Uhrzeit, recht leer, und M parliert wieder mit deutlichem französischem Akzent und versäumt es auch nicht, den scheinbaren Anlass des Streites einzuflechten. Er fühle sich zu sehr gegängelt, Franziska binde und erdrücke ihn. Zweifellos ist es eine hohe Kunst, Franziska zu lenken, aber ich vermute, er hat zuvor in kurzer Zeit eine derart intensive Beziehung zu ihr aufgebaut und geschickt ausgenutzt, dass Franziska eine entsprechende Disposition für so etwas hatte, denn sie litt unter ihrem übermächtigen Bindungswillen. In einer solchen Situation kann M mit Franziska spielen. Er kann Streits entfesseln, deren Anlass und Verlauf sie weder versteht noch steuern kann. Sie ist immer noch davon beseelt, einen Menschen zu halten, an den sie sich klammert und nun eine Wendung zu nehmen scheint, die sie nicht nachvollziehen kann. Am 23. Oktober wird Franziska von M ermordet. Er nutzt kalt ihr Vertrauen aus. Vielleicht umarmen sich die beiden gerade. Sie warten an der Stelle unterhalb des Regenschutzes der Treppenanlage, die ich Ihnen gezeigt habe, Herr Knobel. Der Zug nähert sich. M muss noch nicht einmal den Zug sehen. Er hört das lauter werdende Singen der Schienen, das sich nähernde Rauschen. Dann stößt er sie. Es sind nur gut anderthalb Meter, die er überwinden muss. Danach verschwindet er unerkannt durch den Fußgängertunnel. Es ist an Dominique, den Rest des Theaters zu vollenden. Sie findet den angeblichen Abschiedsbrief Pierres mit einer Unterschrift, die nicht eindeutig dem wahren Pierre Brossard zugeordnet werden kann. Alle Experten haben übereinstimmend ausgesagt, dass man aus einem so kurzen Namenszug nicht genügend Rückschlüsse auf den Verfasser schließen kann, selbst wenn hinreichend Vergleichsmaterial vorliegt. Kurzum: Der Urheber dieser Unterschrift hätte Pierre Brossard sein können – oder eben nicht, wobei für mich Letzteres feststeht. Dominique findet diesen selbstverständlich ebenfalls auf dem gemeinsamen Computer geschriebenen und ebenfalls nach dem Ausdruck sofort gelöschten Brief und nach vermeintlich weiterer Suche auch den früher datierten, an 0829 gerichteten Brief, in dem sich Pierre vermeintlich mit Franziska auseinandersetzt und an sie appelliert, ihn endlich gehen zu lassen. Selbstverständlich muss der Ausdruck dieses Briefes selbst und nicht – wie sonst üblich – nur sein Kuvert die Chiffrenummer enthalten, denn sonst gäbe es ja keine Möglichkeit, den Adressaten zu ermitteln, der sich hinter der Chiffrenummer verbirgt. Deshalb also wird die Nummer 0829 auf das persönliche Schreiben gesetzt. Dominique stellt in scheinbarer Verzweiflung einen Zusammenhang zwischen dem vermeintlichen Abschiedsbrief und dem Ausdruck des Briefes an 0829 her und wendet sich an die Frau, die sich hinter dieser Chiffrenummer verbirgt. Natürlich weiß sie, dass die eigentliche Adressatin bereits tot ist, aber nach außen darf sie das natürlich nicht wissen. Sie wendet sich also mit ihrem eigenen Schreiben an die Liebhaberin ihres Mannes und erwartet, dass dieses Schreiben der Polizei oder einer anderen Person
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