Irrliebe
ausgesagt, diesen Brief überhaupt nie in der Redaktion erhalten zu haben. Außerdem wusste ich damals nicht, dass es sich bei diesem Pierre, der den Brief verfasst hatte, um Pierre Brossard handelte, der dann über die Zeitungen gesucht wurde. Der Staatsanwalt hatte sich doch nur für Franziskas Anzeige interessiert. Ändert sich denn etwas dadurch, dass der Brief hier eingegangen ist?«
Stephan zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß es nicht. Sie müssen es jedenfalls dem Staatsanwalt mitteilen. Ich werde ihn gleich unterrichten. Vielleicht lässt sich ja alles gegenüber Ihrem Arbeitgeber geheim halten. Ich werde mich jedenfalls dafür einsetzen.«
»Alles andere bedeutet für mich die fristlose Kündigung, ich weiß«, murmelte Hilbig. »Ich habe mir sonst nie etwas hier zuschulden kommen lassen.«
»Ich glaube Ihnen ja«, lächelte Stephan.
Als Stephan die Redaktion von Kult-Mund verlassen hatte, versuchte er Staatsanwalt Bekim Ylberi telefonisch zu erreichen. Doch die Geschäftsstelle seines Dezernats teilte mit, dass er in einer komplizierten Strafsache vor dem Landgericht die Anklage vertrete und mutmaßlich bis in den späten Nachmittag hinein in der Sitzung sei.
Stephan sah auf die Uhr. Es war Viertel vor zwölf. Marie würde erst in über einer Stunde ihren Unterricht beendet haben. Hilbigs Frage, ob sich etwas dadurch ändere, dass der Brief von Pierre an Franziska entgegen seiner früheren Behauptung doch der Redaktion von Kult-Mund zugegangen war, zielte unbewusst auf den Kern. Die bisherige Annahme, dass der Brief nur vorgetäuscht war und nie zur Absendung bestimmt war, sondern durch die Vorlage eines Ausdrucks nur diese suggerieren wollte, war nachweislich falsch. Ganz im Gegenteil stand jetzt fest, dass er nicht nur abgeschickt wurde, sondern offensichtlich auch in der Redaktion des Magazins gelesen werden sollte. Anders war nicht zu erklären, warum sich die Postadresse der Redaktion und die Chiffrenummer auf dem für Franziska bestimmten Schreiben befanden und somit sichergestellt oder doch zumindest sehr naheliegend war, dass der Brief dort auch gelesen wurde. Inhalt und Versendung des Briefes sollten bezeugt werden können, und Stephan stellte einmal mehr fest, dass der gesamte Fall davon lebte, gleichermaßen gezielt, aber nach außen scheinbar zufällig, Zeugen zu gewinnen. Alexander Hilbig hatte mit dem Öffnen und Lesen des Briefes das getan, was beabsichtigt war, aber er hatte das weitere Ziel des Verfassers, diesen Brief an Franziska weiterzuleiten, durchkreuzt. Dieser Brief sollte bei Franziska beziehungsweise in ihrem Nachlass gefunden werden, das schien nun klar. Änderte dies wirklich etwas? Oder wäre der Brief, hätte man seine Versendung und seinen Zugang bei Franziska nachweisen können, nur der geeignete Beleg dafür, dass es zwischen Franziska und dem Pierre spielenden M tatsächlich Streitereien gab, die die gespielte Geschichte, die Ylberi hinter allem vermutete, noch glaubhafter machte? Stephan kam zu dem Schluss, dass die neu aufgedeckten Umstände Ylberis Version in der Tat stützten, aber er erkannte auch, dass Hilbigs Aussage gleichwohl eine neue Spur versprach: Warum kam der Brief aus Bochum? Fest stand, dass der Brief an dem Tag abgesandt worden war, als er nach den Feststellungen der Kriminaltechniker auf dem Computer geschrieben worden war, der in Dominiques und Pierres Wohnung stand und anderen nicht zugänglich war. Dies war zwingend, denn sonst wäre der Zugang des Briefes am Folgetag in der Redaktion von Kult-Mund nicht denkbar.
Stephan fuhr in das Kreuzviertel und besuchte Dominique Rühl-Brossards Architekturstudio. Nach ihrem Tod herrschte eine überraschende und deshalb gespenstische Betriebsamkeit. Die überwiegend jungen Architektinnen und Architekten, die Dominique fügsam zugearbeitet hatten, waren emsig damit beschäftigt, die laufenden Aufträge in Dominiques Sinne fortzuführen. Es war offensichtlich, dass Dominiques Ausscheiden die unerwartete Gelegenheit bot, sich profilieren und im Sog des Namens der fachlich populären Architektin eigene Ideen verwirklichen zu können, die im Schatten der dominanten Chefin zum Scheitern verurteilt waren. Es schien, als habe Dominiques Ableben berufliche Karrieren entfesselt, die sich nun frei vom Einfluss der gängelnden Oberlehrerin entfalten wollten. Stephan setzte sich mit Alf Jungmann, einem hochgewachsenen, spindeldürren Jungarchitekten mit zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen schwarzen
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