Irrwege
Befehle waren geändert worden. Haplo sollte leben.
Marit stieß die rasiermesserscharfe Klinge in
einen haarfeinen Spalt zwischen den großen Blöcken aus weißem, glänzend
poliertem Stein, aus denen Boden, Wände und die gewölbte Decke des merkwürdigen
Raums bestanden, in dem sie gefangen waren. Sie fuhr mit dem Dolch die Ritze
entlang, stocherte und suchte nach einer Schwachstelle, von der sie wußte, daß
sie nicht vorhanden war. Sartanrunen waren auf jedem Stein eingraviert.
Sartanrunen beherrschten den ganzen Raum, wohin sie schaute. Die magischen
Zeichen ihrer Feinde taten ihr nichts, aber sie vermied es, damit in Berührung
zu kommen. Sie flößten ihr Unbehagen ein, wie der ganze Raum ihr Unbehagen
einflößte.
Weil er ein Gefängnis war.
Sie wußte es. Sie waren gefangen.
Der Raum war groß, hell erleuchtet, mit einem
diffusen, weißen Licht, das von überall her zu kommen schien. Eine störende
Art von Licht – es begann an ihren Nerven zu zerren. Es gab eine Tür, jedoch
ebenfalls mit Sartanrunen bedeckt. Und obwohl auch diese Zeichen dunkel
blieben, wenn Marit in die Nähe kam, scheute sie davor zurück, die Tür zu
berühren.
Sie konnte die Sartanzeichen nicht lesen, hatte
es nie gelernt. Haplo verstand sich darauf, also hieß es warten, bis er
aufwachte und ihr die Bedeutung erklärte. Da er leben sollte.
Haplo sollte leben. Marit rammte den Dolch
tiefer in die Fuge zwischen den Blöcken und benutzte ihn als Hebel, in dem
vollkommen aussichtslosen Bemühen, einen der Sterne zu lockern. Nichts rührte
sich, eher bestand die Gefahr, daß die Klinge brach. Zornig, enttäuscht und –
auch wenn sie es sich nicht eingestand – angsterfüllt zog sie den Dolch mit
einem Ruck heraus und schleuderte ihn von sich. Er rutschte über den glatten
Boden, prallte gegen die Wand und schlitterte zurück in die Mitte des Raums.
Die Augen des Assassinen öffneten sich ein
wenig. Der Hund hob den Kopf und betrachtete sie wachsam. Marit wandte ihnen
beiden schroff den Rücken zu. Das letzte Gespräch mit Xar ging ihr durch den
Sinn.
»Ist Haplo tot?«
»Nein, Gemahl. Ich fürchte, ich habe versagt…«
»Er ist nicht tot. Ist er dir entkommen?«
»Nein, Gemahl. Ich bin bei ihm.«
»Weshalb lebt er dann noch?«
Ein Messer, hätte sie sagen können. Ein
verfluchtes Sartanmesser.
Er hat mein Leben gerettet, hätte sie sagen
können. Hat es gerettet, obwohl ich versuchte, ihn zu töten. All das hätte sie
vorbringen können.
»Ich habe keine Entschuldigung, mein Gemahl«, war
schließlich das, was sie wirklich antwortete. »Ich habe versagt.«
»Vielleicht ist diese Aufgabe zu schwer für
dich, Marit.
Ich habe Sang-drax ausgesandt, um sich mit Haplo
zu befassen. Wo bist du?«
Marit errötete wieder bei der Erinnerung an die
beschämende Antwort, die ihr kaum über die Lippen wollte. »In einem
Sartangefängnis, mein Gemahl.«
»Ein Sartangefängnis? Bist du sicher?«
»Ich weiß nur, daß ich mich in einem weißen Raum
befinde, versiegelt mit Sartanrunen und ohne einen Fluchtweg. Ein Sartan ist
hier, der uns bewacht. Es ist der, von dem Ihr gesprochen habt, Fürst – Alfred.
Haplos Freund. Dieser Alfred hat uns hergebracht. Unser Schiff ist auf
Chelestra gestrandet.«
»Die beiden haben unzweifelhaft gemeinsame Sache
gemacht. Berichte mir, was geschehen ist.«
Sie erzählte es ihm: die seltsame Waffe mit den
Sartanrunen, der Tytane, die Wasser von Chelestra, der Kompaßstein in ihren
Händen, die Drachenschlangen.
»Wir wurden hergebracht, mein Gemahl – von dem
Sartan.«
»Wie konnte er das bewerkstelligen?«
»Er hat den Fuß in die Tür gestellt. Anders kann
ich es nicht beschreiben.
Ich erinnere mich, wie das Wasser stieg, das
Schiff brach auseinander, unsere Magie ließ uns im Stich. Ich nahm den
Kompaßstein. Er war noch trocken, die Magie intakt. Bilder der Welten tauchten
vor meinen Augen auf. Ich wählte das erstbeste und hielt es fest, und das
Todestor öffnete sich. Dann schlug das Wasser über mir zusammen, ertränkte
mich, ertränkte die Magie. Das Tor begann sich zu schließen. Das Schiff versank,
ein Spielball der Drachenschlangen.
Ein Schlangenkopf stieß durch die Bordwand,
wollte Haplo greifen und verschlingen. Ich bekam ihn zu fassen und entriß ihn
den Kiefern des Scheusals. Die schrecklichen roten Augen fanden mich. Das Tor
schloß sich, viel zu schnell. Und dann stockte es plötzlich, als hätte jemand
einen Keil in die
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