Irrwege
Marit war bei der ersten Gruppe, die
hinüberging, aber – vergewisserte sich Haplo mit einem Blick aus den
Augenwinkeln – sie wartete auf den Rest der Truppe.
Kari trat zu Haplo. Sie und drei andere Patryn
behielten den Waldrand im Auge. »Deine Begleiter können jetzt hinüber«,
ordnete sie an. »Sag ihnen, sie sollen sich beeilen.« Dabei blickte sie auf die
Tätowierungen an ihren Unterarmen, dann auf Haplos. Die Runen glommen blau,
heller als zuvor.
Hugh Mordhand, die Pfeife zwischen die Zähne geklemmt,
betrachtete stirnrunzelnd die schmale Brücke, zuckte endlich die Schultern und
balancierte hinüber; nur einmal hielt er kurz inne, um das Gleichgewicht
wiederzufinden. Der Hund lief unbekümmert hinter ihm her, nicht ohne auf halbem
Weg stehenzubleiben und etwas anzubellen, das er im Wasser gesehen zu haben
glaubte.
Bleiben auf dieser Seite Haplo. Und Alfred.
»Muß – muß ich wirklich…« Der Sartan starrte unglücklich
auf die Brücke.
»Ja, du mußt wirklich«, antwortete Haplo
unerbittlich.
»Was ist mit ihm?« wollte Kari wissen.
»Er hat Angst vor…« Schulterzuckend überließ
Haplo es Kari, sich den Rest zu denken.
Sie musterte Alfred mißtrauisch. »Er besitzt
magische Kräfte.«
»Hat Marit euch das nicht erzählt?« Haplo wußte,
seine Stimme klang verbittert, aber das kümmerte ihn nicht. »Er kann von
seiner Magie keinen Gebrauch machen. Das Labyrinth bemächtigt sich ihrer und
wendet sie gegen ihn. Ähnlich wie die Chaodyn einen feindlichen Speer
auffangen und dem zurücksenden, der ihn geworfen hat. Beim letztenmal hätte es
ihn beinahe das Leben gekostet.«
»Er ist unser Feind…«, setzte sie an.
»Merkwürdig.« Haplo sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen
an. »Ich dachte, das Labyrinth wäre unser Feind.«
Kari machte den Mund auf und schloß ihn wieder.
Sie schüttelte verdrossen den Kopf. »Für mich ist das alles ein Rätsel. Ich
werde heilfroh sein, wenn ich euch Obmann Vasu übergeben kann. Du solltest dir
jedenfalls ein Mittel ausdenken, deinen Freund auf die andere Seite zu befördern,
und zwar schnell.«
Haplo ging zu Alfred, der mit angstgeweiteten
Augen auf den halsbrecherischen Felsbogen schaute. Kari und ihre drei Gefährten
hielten angespannt Wache, während die anderen Patryn am gegenüberliegenden Ufer
zunehmend ungeduldig auf die Nachzügler warteten.
»Nimm dich zusammen«, sagte Haplo. »Es ist nur
ein Fluß.«
»Nein«, widersprach Alfred mit einem
schaudernden Blick in die brodelnden Fluten. »Ich habe das Gefühl, er haßt
mich.«
Haplo stutzte. Tatsächlich, das konnte stimmen.
Er dachte daran, Alfred eine beschönigende Lüge zu erzählen, aber sinnlos, er
würde sie nicht glauben.
Die Wahrheit war vermutlich gnädiger als alles,
was Alfred aus den finsteren Abgründen seiner Vorstellungskraft
heraufbeschwor.
»Dies ist der Fluß des Zorns. Tief und reißend
windet er sich durch das Labyrinth. Nach der Legende ist dieser Fluß das
einzige im Labyrinth, das wir Patryn erschaffen haben. Als die ersten unseres
Volkes in dieses Ghetto verbannt wurden, war ihr Haß so groß, daß aus den Flüchen,
die sie ausstießen, dieser Fluß entstand.«
Alfred sah ihn entsetzt an.
»Das Wasser ist tödlich kalt. Selbst ich,
geschützt von meiner Runenmagie, könnte darin nur kurze Zeit überleben. Und
wenn die Kälte dich nicht tötet, zerschmettert dich das Wasser an den Felsen,
oder die Pflanzen schlingen sich um deine Beine und ziehen dich in die Tiefe,
bis du ertrunken bist.«
Alfred war kreidebleich geworden. »Ich kann
nicht…«
»Du hast das Feuermeer überquert«, erinnerte ihn
Haplo. »Du kannst auch diesen Fluß überqueren.«
Alfred lächelte schwach. Ein Hauch Farbe kehrte
in seine blassen Wangen zurück. »Ja, das habe ich wohl getan – das Feuermeer
überquert, nicht wahr?«
»Warum versuchst du es nicht auf Händen und
Knien?« schlug Haplo vor. »Und nicht nach unten schauen.«
»Ich habe das Feuermeer überquert«, sagte Alfred
vor sich hin.
Er trat an den Rand der steilen Uferböschung,
schluckte, kniete sich hin, holte tief Atem und legte die Hände auf den
feuchten Stein der Brücke.
»Und beeil dich«, Haplo hatte sich zu ihm
hinuntergebeugt. »Eine Gefahr nähert sich.«
Alfred starrte mit offenem Mund zu ihm empor.
Vielleicht glaubte er, Haplo wolle ihn nur anspornen, dann jedoch bemerkte er
den blauen Schimmer der Tätowierungen. Er nickte beklommen, kniff die Augen
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