Irrwege
fest zu und tastete sich kriechend auf die Brücke hinaus.
»Was tut er?« fragte Kari verblüfft.
»Die Brücke überqueren.«
»Mit geschlossenen Augen?«
»Wenn man bedenkt, wie es ihm mit offenen Augen
ergeht, ist es so wahrscheinlich besser.«
»Er wird den ganzen Tag brauchen«, meinte Kari,
nachdem sie eine Weile zugesehen hatte, wie Alfred sich allmählich
vorwärtsschob.
Und sie hatten keine Zeit zu verlieren. Haplo
kratzte seinen Handrücken, das Leuchten der Runen verstärkte sich. Kari blickte
sorgenvoll zum Wald zurück. Die Patryn am jenseitigen Ufer verfolgten mit
finsteren Mienen das Schauspiel, das Alfred bot.
Leute aus der Stadt waren dazugekommen, unter ihnen
ein junger Mann, den Haplo wahrscheinlich nicht bemerkt hätte, wäre er nicht so
verschieden gewesen von den anderen.
Die meisten Patryn – Männer wie Frauen – sind
hager und muskulös, Folge eines unerbittlichen Überlebenskampfes. Der
tätowierte Körper dieses Mannes war fleischig, weich, mit hängenden Schultern
und einem runden Bauch. Doch aus der respektvollen Art, mit der die anderen
Patryn ihn behandelten, schloß Haplo, daß es sich um den Obmann handelte –
Vasu, was soviel bedeutete wie ›strahlend‹, ›gütig‹, ›ausgezeichnet‹.
Vasu trat ans Ufer, betrachtete das Geschehen
und hörte mit geneigtem Kopf den Patryn zu, die ihm schilderten, was
vorgefallen war. Er gab keine Anweisungen. Kari hatte die Befehlsgewalt bei
diesem Unternehmen. In dieser Situation war der Obmann lediglich Beobachter
und durfte nur eingreifen, falls etwas Unvorhergesehenes geschah.
Und vorläufig schien alles gutzugehen. Alfred
kam voran, besser sogar, als Haplo zu hoffen gewagt hatte. Die Oberfläche der
Felsenbrücke, obwohl naß und schlüpfrig von der Gischt des tosenden Wassers,
war rauh und uneben. Der Sartan fand Halt an Rissen und Vorsprüngen und konnte
sich vorwärtsziehen. Einmal rutschte sein Knie ab. Er krallte sich fest, und es
dauerte eine Zeitlang, bis er todesmutig weiterkrabbelte.
Er befand sich ungefähr in der Mitte der Brücke,
als das Geheul aus dem Wald ertönte.
»Dämonenwölfe«, sagte Kari und stieß einen Fluch
aus.
Das Heulen der Wölfe im Labyrinth ist unheimlich
und grauenerregend. In die tierischen Laute mischen sich Worte, die von
zerrissenem Fleisch singen, von warmem Blut und zermalmten Knochen und Tod.
Alfred, überrascht und erschreckt, riß die Augen
auf. Tief unter sich sah er das schwarze Wasser aufschäumen. Panikerfüllt
streckte er sich lang aus, umklammerte die Brücke mit Armen und Beinen und
erstarrte zu völliger Reglosigkeit.
Haplo ballte die Fäuste. »Nicht ohnmächtig
werden! Verdammt, nicht ohnmächtig werden!«
Dämonenwölfe verraten ihre Anwesenheit nicht
durch Geheul, außer sie sind überzeugt, ihre Beute sicher zu haben. Und wie es
sich anhörte, war es eine ganze Meute, viel zu viele für Kari und ihre drei
Gefährten.
Vasu machte eine rasche Handbewegung. Die Patryn
nahmen am Ufer Aufstellung, spannten die Bögen und hoben die Speere, bereit,
ihren noch drüben befindlichen Gefährten den Rücken freizuhalten. Währenddessen
rief Hugh Mordhand Alfred zu, er solle weiterkriechen, und tastete sich so
weit die Böschung hinunter wie möglich, um den Sartan auf festen Boden zu ziehen,
sobald er in Reichweite kam.
Haplo war mit einem Satz auf der Brücke.
»Du wirst stürzen!« rief Kari. »Die Magie der
Brücke gestattet nicht mehr als einem die Überquerung. Laß mich das machen.«
Sie hob den Speer und zielte auf Alfred.
Haplo hielt ihren Arm fest. Sie entwand sich
seinem Griff und warf ihm einen flammenden Blick zu.
»Ich denke nicht daran, drei meiner Leute für
ihn zu opfern!«
»Macht euch bereit, mir zu folgen«, entgegnete
Haplo schroff.
Er setzte sich in Bewegung, doch gleichzeitig
sprang der Hund an Hugh Mordhand vorbei, landete auf der Brücke und lief auf
den Sartan zu.
Haplo wartete ab. Die Magie, die gegen ihn
arbeitete, ließ den Hund vielleicht unbehelligt. Hinter sich konnte er die
Dämonenwölfe durch das Unterholz brechen hören. Ihr Geheul wurde lauter.
Alfred lag auf dem Bauch, starrte wie gebannt in
das Wasser und rührte sich nicht.
Der Hund trabte leichtfüßig über den schmalen
Felsensteg. Bei Alfred angekommen, bellte er einmal, um den Sartan aus seiner
Erstarrung zu reißen.
Alfred schien taub zu sein.
Ratlos schaute der Hund zu seinem Herrn.
Kari hob den Speer. Am anderen Ufer
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