Irrwege
schürzte sie ihre zerschlissenen Röcke und schritt über die Agora. Vor dem
Tor stehend, legte sie das Amulett in die Aussparung in der Mitte des
Runengefüges.
»Sie ist wahnsinnig geworden!« flüsterte Rega
unter Tränen. »Sie wird uns alle umbringen!«
»Na und?« fragte Roland plötzlich und lachte
hart. »Der Drache, der Magier, die Tytanen… Als ob es nicht völlig egal wäre,
wer uns erwischt!«
Paithan versuchte, sich zu bewegen, aber seine
Glieder waren schwer wie Blei. »Thea, was tust du?« rief er kläglich.
»Ich lasse die Tytanen herein«, erwiderte
Aleatha.
Das Amulett leuchtete grell. Das Tor schwang
auf.
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Kapitel 42
Abri,
Labyrinth
Geführt von Vasu, schritten Haplo und seine
Gefährten durch das mächtige Eisentor, das Zugang zu den Straßen von Abri
gewährte. (Der Name bezeichnete einen Zufluchtsort, insbesondere eine
Felsenhöhle.) Sonst waren sie unbewacht, der Obmann hatte die alleinige
Verantwortung übernommen. Auf seine Anweisung waren Kari und ihre Leute nach
Hause gegangen, um sich auszuruhen, doch die übrigen Bewohner der Stadt strömten
zusammen, um aus respektvoller Entfernung einen Blick auf die Fremden zu
werfen. Die Nachricht verbreitete sich rasch, und bald waren die Straßen gesäumt
von Männern, Frauen und Kindern.
Aber natürlich, dachte Haplo grimmig, dieses
Fehlen von Wachen bedeutet nicht, daß man uns vertraut. Schließlich befinden
wir uns in einer ummauerten Stadt, mit nur einem Tor, an dem Posten stehen.
Nein, Vasu geht kein großes Risiko ein. Abri war, wie der Name andeutet, eine
Felsenburg. Gebäude, aus Steinen gemauert, die Gassen schmal und ungepflastert,
die Hauptstraßen dagegen breiter und planiert, dem lebhaften Hin und Her der
Karren und Handwagen angemessen.
Die Bauweise der Häuser erinnerte an Kasematten,
mit schweren Läden vor den kleinen Fenstern, die im Fall eines Angriffs leicht
zu verbarrikadieren waren; sollte es schlimm kommen, boten die Höhlen im Berg
den Bewohnern Zuflucht. Kein Wunder, daß es dem Labyrinth bisher nicht gelungen
war, Abri und seine Bevölkerung zu vernichten.
Haplo schüttelte den Kopf. »Und doch ist es
immer noch ein Gefängnis. Es ist der Traum unseres Volkes, aus dem Labyrinth zu
fliehen. Wie konntet ihr diesen Traum verraten und seßhaft werden?«
»Du warst ein Läufer, Haplo, wie man mir
berichtet hat?«
Haplo schaute zu Marit, die auf der anderen
Seite neben Vasu ging, mit starr geradeaus gerichtetem Blick und vorgerecktem
Kinn. Sie wirkte so kalt und hart und abweisend wie die Stadtmauern.
»Ja«, bestätigte Haplo, »ich war ein Läufer.«
»Und es ist dir gelungen zu entkommen. Du hast
das letzte Tor erreicht.«
Haplo nickte wortlos. Er war nicht gewillt,
darüber zu sprechen; die Erinnerung war zu schmerzlich.
»Und wie ist die Welt dort draußen?«
»Wunderschön«, antwortete Haplo mit den Gedanken
im Nexus. »Eine Stadt, groß, unvergleichlich. Wälder und sanfte Hügel, Nahrung
im Überfluß…«
»Friedlich?« fragte Vasu. »Keine Bedrohung?
Keine Gefahr?«
Ja, lag es Haplo auf der Zunge zu
antworten, dann erinnerte er sich und schwieg.
»Es existiert also eine Bedrohung?« forschte
Vasu behutsam. »Gefahr?«
»Eine sehr große Gefahr«, erwiderte Haplo mit gedämpfter
Stimme. Er dachte an die Drachenschlangen.
»Warst du im Nexus glücklich, Haplo? Glücklicher
als hier?«
Haplo schaute wieder Marit an. »Nein«,
antwortete er ruhig.
Sie vermied es immer noch, ihn anzusehen. Wozu?
Sie verstand auch so, was er meinte. Brennende Röte stieg ihr ins Gesicht.
»Viele, die sich in Freiheit wähnen, liegen in
Ketten«, bemerkte Vasu.
Haplo begegnete den Augen des Obmanns und war
überrascht und beeindruckt. Es waren braune Augen, weich wie der Körper des
Mannes. Doch in ihren Tiefen brannte ein Licht, das Licht von Güte und
Weisheit. Haplo sah sich gezwungen, seinen ersten Eindruck zu revidieren.
Gewöhnlich wird Obmann (auch Frauen haben dieses Amt inne) eines Stammes, wer
der Stärkste ist; jemand, der bewiesen hat, daß er zu überleben versteht: In
den meisten Fällen war es eines der ältesten Mitglieder des Stammes, ein
erfahrener und erprobter Krieger. Dieser Vasu war jung, weichlich und hätte
nie in einem Zweikampf gegen einen Herausforderer bestehen können. Haplo hatte
sich gewundert, wie es ihm gelang, die Führung über die stolzen, kriegerischen
Patryn zu behalten.
Jetzt fing er an, es zu begreifen. »Ihr habt
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