Isabelle
sah die Kleider des Mädchens an einem Wandhaken hängen. Sie wirkten einfach und billig, vor allem im Vergleich zu denen des Mannes. Eine welke Pfingstrose steckte in der Wolle ihres beigefarbenen, mit Spitze abgesetzten Pullis. Die Blume rührte ihn. Auch die Jacke des Mädchens fehlte. Wo war die Brieftasche? Wo waren die Autoschlüssel? Wo war das Auto?
Kleiweg kehrte ins Zimmer zurück. Er hob den Pullo ver des Mannes hoch und fand darunter ein Paar goldene Manschettenknöpfe. Also kein Raubüberfall, aber danach sah das hier sowieso nicht aus.
Der Schwachpunkt waren vermutlich die Terrassentü ren und nicht die Vordertür, die abgeschlossen und noch zusätzlich mit einer Kette verriegelt gewesen war. Des halb hatten die Beamten hintenherum gehen müssen und anschließend die matschigen Fußstapfen hinterlassen. An den Terrassentüren befanden sich keine Einbruchsspuren, aber an einer baumelte ein Häkchen und an der anderen, die mit einem Drehriegel verschlossen werden konnte, befand sich eine Öse. Kein Problem, nur dass diesmal mehr hierein gekommen war als nur frische Luft.
Sie hatten sich sicher gefühlt.
Kleiweg steckte die Hände in die Taschen und beugte sich über die Leiche. Ein Mann um die fünfzig, körperlich in guter Verfassung. Dem Brigadier zufolge hatte die Frau auf dem Rücken gelegen und der Mann neben ihr, ungefähr so wie jetzt, als habe er dicht an sie gekuschelt auf der Seite geschlafen, einen Arm um ihren Körper geschlungen. Sie hatten sie vorsichtig unter dem Arm hervorgezogen und ihn so liegen gelassen. Bei Aufnah men zu Identifikationszwecken würde man die Stelle, wo das austretende Geschoss ein Stück von der Stirn wegge sprengt hatte, abdecken müssen.
Kleiwegs Blick fiel auf die Narbe am Handrücken des Toten. Mit zwei Fingerspitzen hob er die Hand am Mittelfinger ein Stückchen hoch, um sich die Innenfläche anzusehen. Die Narbe konnte von einer Schusswunde stammen, aber sie musste mindestens zehn Jahre alt sein.
Das Blut hatte einen großen Teil des Bettes durchtränkt, doch am konzentriertesten und dunkelsten war es am Rand des Kissens und darunter, dort, wo die Schultern des Mannes lagen. Kleiweg schaute sich erneut die Stelle an, wo die Kugel in den Hinterkopf des Mannes eingedrungen war, und versuchte im Geiste, ihre Bahn nachzuvollziehen. Jedes Kind konnte erkennen, dass der Körper sich nicht in seiner ursprünglichen Position befand.
Er hatte die Fotos noch nicht gesehen, doch wenn die Kugel hinten links in den Schädel des Mannes eingetreten und rechts vorne wieder ausgetreten war, wonach sie in der linken Schulter der Frau stecken blieb, musste sie, als der Schuss fiel, nicht nur unter ihm gelegen haben, sondern auch ziemlich weit oben am Kopfende.
Auch ohne das Kamasutra als Gebrauchsanweisung konnten sich beim Sex Hunderte verschiedener Stellungen ergeben. Diese kam Kleiweg so vor, als passe sie eher zum Ausklang des Ganzen. Er konnte sich natürlich irren, aber die Geschossbahn und die Blutflecken verrieten, dass die beiden sich in einer typischen Position danach befunden hatten: Die Frau lag auf dem Rücken, praktisch mit dem Scheitel am oberen Querbrett, während der Kopf ihres Liebhabers unterhalb ihres Kinns oder zwischen ihren Brüsten ruhte. Vielleicht hatte sie die Hände um seinen Kopf gelegt und ihn an sich gedrückt. In diesem Fall waren womöglich ihre Hände verletzt worden, je nachdem, wo sie sich befunden hatten. Vielleicht hatte sie ein Geräusch gehört und den Kopf gerade noch rechtzeitig losgelassen, bevor die Kugel abgefeuert wurde. Doch das war nicht das Problem. Das Problem war, dass sie verlagert worden sein musste. Wenn Brigadier Stokman die Wahrheit sagte und niemand die Position der Körper verändert hatte, musste der Mörder den Mann an der Schulter gefasst und neben die Frau gerollt haben. Danach hatte er sie auf dem Bett ein Stück weiter nach unten gezogen. Warum? Wollte er kontrollieren, ob er auch sie ausgeschaltet hatte?
Kleiweg schüttelte den Kopf. Vielleicht war die Frau in diesem Moment, oder ein wenig später, noch bei Bewusstsein gewesen und hatte sich selbst weiter nach unten manövriert, einfach weil sie sich verstecken wollte. Dann zerbrach er sich umsonst den Kopf darüber.
Er blickte zur Tür. Der Mörder brauchte nur das Häk chen zu lupfen. Lautlos kam er herein. Vielleicht waren sie halb eingeschlummert. Der Mann hatte vielleicht ein Geräusch gehört, aber da war es schon zu spät. Die Frau dagegen könnte den
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