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Isabelle

Isabelle

Titel: Isabelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felix Thijssen
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bewusstlose Frau in dem kleinen Krankenzimmer auf ein Bett hievten und mit Schläuchen und Monitoren verbanden.
    Eine Frau im Arztkittel kam den Flur entlang und lächelte den Polizisten an. »Sie warten wahrscheinlich auf das da«, sagte sie freundlich und überreichte ihm einen kleinen Plastikbeutel. »Wir haben sie nicht sauber gemacht, das war doch richtig, oder?«
    Der Beamte betrachtete durch das Plastik hindurch das blutige Stück Metall und steckte den Beutel in seine Uniformtasche. »Wann kann ich mit ihr reden?«
    Die Ärztin runzelte die Stirn. »Das kann ich wirklich nicht sagen.«
    »Ist sie noch in Narkose?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Wir haben sie nur örtlich betäubt, die Kugel war kein Problem. Aber sie hat einen schweren Schock erlitten. Sie liegt im Koma.«
    »Und, dauert das lange?«
    »Das kann man unmöglich vorhersagen. Körperlich fehlt ihr sonst nichts. Sie macht einen kerngesunden Eindruck. Ich habe das Gefühl, dass es nicht lange dauert, aber ich kann nichts versprechen. Es hängt davon ab, wie sie seelisch und geistig veranlagt ist, aber nach einem solchen Schock muss man mit allem rechnen, sogar mit einem zeitlich begrenzten oder teilweise dauerhaften Gedächtnisverlust.«
    »Aber ich muss doch etwas in meinen Bericht hineinschreiben«, sagte der Beamte frustriert. »Wir müssen wissen, wer sie ist. Sie ist eine Mordzeugin.«
    »Ja, und genau deswegen steht sie unter Schock«, erwiderte die Ärztin missmutig. »Sollen Sie etwa hier bleiben?«
    »So lautet mein Auftrag. Heute Nachmittag werde ich abgelöst. Wir müssen sie bewachen.«
    »Bewachen? Ist sie denn in Gefahr?«
    »Wir müssen auf alles eingestellt sein.«
    Sie schaute ihn geringschätzig an. »Ich hoffe, Sie sind auch darauf eingestellt, dass wir in diesem Krankenhaus keine Wildwest-Vorstellungen gebrauchen können.«
    Sie ließ ihn stehen und verschwand im Krankenzimmer.
    Tante Maran machte sich die größten Sorgen, als sie in der Autobahnraststätte anrief und erfuhr, dass Isabelle an diesem Morgen nicht zur Arbeit erschienen war.
    Sie hatte schon kaum schlafen können, nachdem Isabelle sie gestern Abend angerufen hatte, um ihr mitzuteilen, dass es spät werden könne. Gegen Mitternacht wurde ihr klar, dass Isabelle die ganze Nacht wegbleiben würde. Sie wurde böse und unruhig und war tief enttäuscht, weil sie vermutete, Isabelle verbringe die Nacht bei Gerard und würde sich wieder von ihm becircen lassen.
    Maran war siebzig Jahre alt und verstand nichts von jungen Leuten. Schon ihre Nichte Amanda hatte sie nicht verstanden, und Isabelle, Amandas Tochter, war noch eine Generation jünger. Sie hatte nicht die Chance gehabt, die Mutterrolle für Amanda zu übernehmen, und so etwas wie eine Großmutter für Isabelle zu werden war ihr einfach nie gelungen.
    Maran mochte Kinder noch nicht einmal, sie war eine alte, unverheiratete Tante. Manchmal schaute sie in den Spiegel und sagte: »Alte Jungfer!« Glücklicherweise hatte sie etwas Geld geerbt, sodass sie sich ein Kindermädchen hatte leisten können. Sie hatte geglaubt, alles würde einfacher werden, sobald das Kind zur Schule ging, doch ihr Leben war nur noch komplizierter und aufregender und schwieriger zu ertragen geworden.
    Sie hatte ihr Bestes getan. Sie hatte Isabelle bei sich behalten und großgezogen, weil sie das als ihre Pflicht gegenüber Amanda betrachtet hatte, oder eigentlich eher gegenüber ihrer Schwester Mechthild, Amandas Mutter. Für Mechthild wäre es eine furchtbare Vorstellung gewesen, dass ihre Enkelin in ein Waisenhaus gekommen oder von Fremden adoptiert worden wäre – so als wären die Strafe für ihre eigenen Sünden und der Fluch ihres Vaters von einer Generation auf die nächste weitervererbt worden.
    Die Mertens gehörten früher zu den Familien, die das Rückgrat der ganzen Umgebung bildeten. Sie waren Mitglieder im Gemeinderat und von Gemeindekommissionen, es hatte einen Beigeordneten gegeben und einen Direktor einer Käsefabrik. Maran dachte oft an ihre Mutter, eine schüchterne, sanfte Frau, verheiratet mit einem Tyrannen. Mit ihnen hatte alles aufgehört, der Faden war zerrissen. Sie hatten nur zwei Töchter gehabt, die gehorsame Maran und Mechthild, die Freibeuterin. Maran entwickelte sich zu einer alten Jungfer, Mechthild wurde schwanger und brannte mit ihrem Ausländer durch.
    Danach hatte Maran stets ohne ihre Schwester zurechtkommen müssen, und nach dem Tod ihrer Eltern hatte sie niemanden mehr, außer ein paar Cousins und

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