Isau, Ralf - Neschan 03
Schwüle als derart angenehm empfunden – langsam kehrte Leben in seine steifen Füße zurück.
Er drehte sich um und blickte den Weg zurück, den er gegangen war. Höchstens eine Achtelmeile, stellte er verwundert fest.
Es war ihm vorgekommen wie ein ganzer Tagesmarsch. Mit einer kreisenden Bewegung des Stabes signalisierte er den wartenden Freunden, dass nun der Nächste kommen könne. Er sah, wie Yomi und Gimbar einen Augenblick lebhaft miteinander gestikulierten, dann setzte sich der lange Seemann in Bewegung.
Yomis Gang wirkte noch hölzerner als sonst. Obwohl die Entfernung zu groß war, um in seinem Gesicht lesen zu können, war jeder seiner Bewegungen anzumerken, wie er sich fühlte. Yonathan streckte seine unsichtbaren Fühler aus, um Yomis Empfindungen zu erkunden. Er spürte Unsicherheit, aber er fühlte auch das Vertrauen, das noch stärker war. Wie ein kleines Kind, das einen schmalen Steg überquert, zwar zögernd, aber letztlich doch zielstrebig, um in die ausgebreiteten Hände seines Vaters zu laufen, schritt Yomi vorsichtig durch die Steingestalten. Er tat genau das Richtige: Er ließ den Blick nicht schweifen, sondern schaute nur auf Yonathan, der ihn durch aufmunternde Gesten immer weiter vorwärts lockte.
»Puh, das war ziemlich knapp!«, keuchte Yomi, als er es endlich geschafft hatte. Er ließ sich kraftlos auf den Boden sinken und erklärte: »Meine Knie sind unheimlich weich, jetzt, wo sie wieder auftauen. Ich habe wirklich gefürchtet, sie würden mir auf halbem Wege einfrieren.«
»Sind sie aber nicht«, sagte Yonathan. Er war erleichtert. »Jetzt müssen wir nur noch Gimbar dazu bringen, unserem Beispiel zu folgen.«
»Er hat unheimliche Angst. Ich mache mir ziemliche Sorgen um ihn.«
»Dann steh auf und hilf mir dabei, ihn herüberzulotsen. Wenn er sieht, dass es dir gut geht, gewinnt er vielleicht neuen Mut.«
»Klar.« Yomi war im Nu auf den Beinen. Selbst wenn er es selten offen aussprach, verband ihn doch mit dem ehemaligen Piraten ein enges Band der Freundschaft. Ihn als leblose Statue hier zurückzulassen war das Letzte, was er sich wünschte.
Endlich setzte sich Gimbar mit zaghaften Schritten in Bewegung. Sein Gang hatte nichts von der katzenhaften Geschmeidigkeit, die ihm sonst eigen war. Vielmehr stakste der Expirat unbeholfen dahin, als wären seine Beine bereits zu Stein erstarrt. Immer wieder blieb er stehen, atmete tief durch und nahm dann den nächsten Schritt in Angriff.
»Er hat die Hosen gestrichen voll«, kommentierte Yomi. »Aber ich kann ihn gut verstehen.«
Das Koach Haschevets verriet Yonathan, was sich in seinem Gefährten abspielte. »Neben seiner Furcht vor großen Höhen kennt er eigentlich nur die Platzangst. Die Vorstellung, im eigenen Körper eingesperrt zu sein, ist für ihn unerträglich.«
Yomi und Yonathan fuhren fort dem Freund zuzuwinken. Aufmunternde Rufe klangen ihm entgegen.
Gimbar schickte sich gerade an, die letzte Säule zu passieren, als er unvermittelt stehen blieb. Ein Schrei entrang sich seiner Kehle und er blickte entgeistert auf seine Füße.
»Was ist?«, rief Yomi besorgt.
»Seine Beine, sieh doch!«, erwiderte Yonathan bestürzt.
Gimbar schrie laut in Todesangst, von den Wänden der Schlucht hallte das Echo zurück.
»Seine Füße werden grau wie Stein«, bemerkte jetzt auch Yomi mit wachsendem Entsetzen.
»Nicht wie Stein. Sie verwandeln sich in Stein.«
»Aber dann tu doch etwas, Yonathan! Wir können doch nicht einfach nur…«
Yonathan war schon unterwegs. Er dachte in diesem Moment nicht an das warnende Gedicht von den sieben Wächtern, nicht daran, dass man die »Ohren« auf keinen Fall drängen durfte – er stürzte nur vorwärts.
Gimbar wand sich wie jemand, der in einem Sumpf feststeckt und spürt, wie er langsam in die Tiefe gezogen wird. Er schrie aus Leibeskräften und bemerkte zuerst gar nicht, dass Yonathan bei ihm stand. Ohne zu zögern, packte der Stab träger die Rechte seines Freundes. Sogleich ließ er die Kraft der Projektion auf ihn überfließen. Ähnlich wie er den umnebelten Geist von Lilith, dem Ostmädchen, oder Leschem, dem Fährtensucher, geheilt hatte, legte er eine Wolke beruhigender, angenehmer Gefühle auf das aufgewühlte Bewusstsein seines Freundes. Geborgenheit, Vertrauen und Sicherheit zu schenken war allerdings keine leichte Aufgabe, wenn man selbst mit der Panik zu kämpfen hatte.
Es schauderte Yonathan, als er die Beine Gimbars betrachtete: Sie schienen grau und unbeweglich,
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