Isau, Ralf - Neschan 03
unseren besten Wünschen ziehen lassen.«
»Ich schätze deine Rücksichtnahme«, bedankte sich Yehsir. »So lebt denn wohl. Möge Yehwoh eure Sippen segnen.«
Ohne ein weiteres Wort setzte Yehsir seinen Rappen in Bewegung. Yonathan und Gimbar beeilten sich, mit den Packtieren zu folgen.
»Meine Einladung bleibt natürlich bestehen!«, rief Gareb ihnen noch nach. »Sobald wir uns wiedertreffen, wird mein Zelt das deine sein, Yehsir. Für sehr lange Zeit, verlass dich drauf!«
»Wie kommt es nur, dass eure Einladungen immer wie Drohungen klingen?«, wollte Gimbar wissen, nachdem sicher war, dass sich Garebs Trupp in die andere Richtung entfernt hatte.
Yehsir lächelte grimmig. »Vielleicht, weil sie gelegentlich auch so gemeint sind.«
»Was hast du ihm eigentlich gesagt, dass er uns so bereitwillig ziehen ließ?«, fragte Yonathan.
Das Lächeln auf Yehsirs Lippen wurde breiter. »Du erinnerst dich sicher daran, dass Gareb mich den Bruder der Rose des Graslandes genannt hat. Er meinte damit seine Frau; Gareb ist mein Schwager. Deshalb ist mir auch einiges bekannt, über das der hochgeachtete Gareb lieber den Mantel des Schweigens decken würde. Ich habe ihn davon überzeugt, dass er uns ziehen lässt. Ansonsten hätte ich seinen Männern erzählt, dass sein Zopf falsch ist.«
»Falsch?«
»Der Zopf ist der ganze Stolz eines Reiterführers. Keiner, der unter den Steppenreitern nach Amt und Würde trachtet, könnte dies ohne Zopf, geschweige denn mit einer Glatze tun. Garebs wehender Haarschopf ist nichts weiter als ein kunstvolles Geflecht aus schwarzen und weißen Pferdeschweifen.«
Yonathan musste laut auflachen. »Kein Wunder, dass er so blass geworden ist. Ich zweifle nicht im Geringsten daran, dass auch ihr Steppenleute die Weisheit eines Mannes richtig einzuschätzen wisst. Aber wenn einer glaubt, dass sein langer Zopf mehr wert ist als Klugheit und Güte, dann geschieht es ihm ganz recht, wenn ihm etwas Demut beigebracht wird.«
»Du hast keinen Zopf unter deinem Turban und deine Kleidung ist weiß und nicht schwarz«, wandte sich Gimbar fragend an den Karawanenführer. »Wie kommt es, dass du so anders bist als deine Sippenbrüder?«
Yehsir wurde ernst. Er richtete seine Augen für eine kleine Weile auf den Horizont, bevor er antwortete: »Als ich jung war, sah ich genauso aus wie alle anderen Männer der Steppe. Ich besaß damals mehr Temperament als Verstand und glaubte der geborene Sippenführer zu sein. Mein Vater entschied sich dafür, das Amt an meinen Bruder zu geben – völlig zu Recht, denn er ist der Erstgeborene von uns beiden. Aber damals fiel es mir schwer, das zu akzeptieren. Ich schnitt zornig meinen Zopf ab, tauschte die schwarzen Gewänder gegen weiße und kehrte dem Sippenverband den Rücken. Es zog mich in die Ferne. Eine Weile trieb ich mich in den Städten entlang der Karawanenrouten herum – immer hungrig, nicht immer ehrlich. Eines Tages erwischte mich Baltan, gerade als ich versuchte, einem seiner Packtiere das Tragen der schweren Proviantpakete zu erleichtern.«
»Ich nehme an, nicht zu seinem, sondern zu deinem Nutzen. Du wolltest meinen Schwiegervater bestehlen!«
»Gimbar! Ein Steppenbewohner stiehlt nicht. Er verteilt die Güter dieser Welt um.«
Gimbar nickte. »Das leuchtet mir ein.«
Yonathan warf seinem Freund einen kurzen Blick zu, um gleich darauf Yehsir zu fragen: »Und was hat Baltan dann mit dir angestellt?«
»So unwahrscheinlich es klingen mag: Baltan hat mich in seine Dienste aufgenommen. Er gab mir die Möglichkeit, auf ehrliche Weise meinen Lebensunterhalt zu verdienen und trotzdem weiter durch die Welt zu ziehen. Aber er hat noch mehr getan: Im Laufe der Zeit machte er mir klar, wie töricht ich gehandelt hatte. Heute bin ich froh, dass ich mich mit meinem Vater noch aussöhnen konnte, bevor er starb. Auch mein Bruder trägt mir nichts mehr nach.«
»Aber dein gar nicht steppenländisches Äußeres hast du trotzdem beibehalten«, setzte Gimbar nach.
»Ich bin unter Baltans Obhut ein anderer Mensch geworden. Meine jetzige Kleidung und Haartracht passen, so glaube ich, besser zu dieser anderen Persönlichkeit.«
»So sehe ich das auch«, sagte Yonathan.
Die folgenden zwei Tage verliefen ohne nennenswerte Vorkommnisse. Allmählich veränderte sich die Landschaft. Die bisher flache Steppe wurde wellig, am Horizont begannen sich weit gestreckte Hügel abzuzeichnen. Bald kreuzten kleinere Bäche den Weg der Reisenden, gruben Falten in das glatte
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