Isau, Ralf
Entscheidung«, murmelte Karl.
Er befreite die Meerschaumpfeife aus ihrer Umhüllung und sah sie nachdenklich an. Irgendwo hatte er einmal etwas über dieses außergewöhnliche Material gelesen. Sepiolith. So lautete die wissenschaftliche Bezeichnung für das meist reinweiße Mineral, aus dem solche Pfeifen hergestellt wurden. Den beinahe märchenhaften Namen verdankte es wohl seiner Porosität und der daraus resultierenden, für Gesteine außergewöhnlichen Eigenschaft, auf Wasser schwimmen zu können. Karl grübelte. So kalt es in der unmittelbaren Umgebung des schwarzen Nox auch war, hinterließ er doch Helligkeit und Wärme, wo immer er etwas Dunkles aufsaugen konnte. Dann musste der Lux das genaue Gegenteil sein: Er absorbierte Licht und strahlte Hitze aus. Wie die stetig glühende weiße Meerschaum pfeife?
Sein Blick sprang unvermittelt zu dem anderen Eisblock. Rasch durchquerte er den Raum. Seine Hand wanderte über die Oberfläche, ohne sie zu berühren. »Was hat Xayíde dir nur angetan, kleines Mädchen?«, flüsterte er. In seinem Herzen rührte sich Mitleid. Obwohl er die Gestalt im Eis noch immer nur schemenhaft wahrnahm, glaubte er sich doch sicher zu sein: Es handelte sich um ein Mädchen – blass, zart, barfuß, mit schneeweißem, langem Haar und einem wadenlangen Hemdchen –, das zu lange dem Nox ausgesetzt gewesen war.
Der Größe nach zu urteilen mochte es neun, höchstens zehn Jahre alt gewesen sein, bevor man es hier eingeschlossen hatte, um ...ja, wozu eigentlich?
»Wer bist du?«, flüsterte Karl traurig. Eine Träne tropfte von seinem Gesicht und fiel genau auf den durchbrochenen Pfeifendeckel, bahnte sich ihren Weg durch die kleinen Löcher und fiel auf die Glut. Es zischte. Karls Blick senkte sich auf die Meerschaumpfeife in seiner Hand, und es war, als erwachte er aus einem Traum. Erneut wandte er sich dem Mädchen zu und hoffte, dass sie ihn hören oder von seinen Lippen ablesen konnte.
»Bitte verzeih mir. Ich kann nicht warten, bis du aus diesem magischen Gefängnis befreit bist, aber meine Meerschaumpfeife lasse ich dir da. Vielleicht ...« Er senkte den Blick, weil es ihm ein schlechtes Gewissen bereitete, das unschuldige Kind sich selbst zu überlassen. Aber hier ging es schließlich um Phantásien, um die Bibliothek, um Herrn Trutz und Qutopía und ... Rasch legte er die Pfeife oben auf den Eisblock des Mädchens und drehte sich um.
Er verspürte Zorn, weil ihm Xayíde oder ihr Spiegelbild oder vielleicht auch beide diese Entscheidung abverlangt hatten. Rasch warf er einen Blick auf seine Taschenuhr. Gerade erst kurz vor Mitternacht. Dabei war ihm das Gefangensein im Eis wie eine Ewigkeit vorgekommen. Gerade wollte er sich entspannen und erwog schon die Möglichkeit, doch zu warten, bis das Mädchen aus ihrem Block befreit war, als ihm ein schrecklicher Gedanke kam. Was, wenn die Uhr im Eis stehen geblieben war und ihre Unruhe sich erst nach seiner Befreiung wieder in Bewegung gesetzt hatte? Immerhin war ja auch er in dem hermetisch abgeschlossenen Panzer am Leben geblieben, als wäre die Zeit für ihn irgendwie angehalten worden. Nein, er durfte nicht länger zaudern.
Seine Hand tauchte in die linke Manteltasche ... Nichts. Also doch rechts! Ja, da fand er, was er suchte. Den Handschuh aus Einhornhaar. Sollte er ihn überziehen, um den Nox vom Eiszapfen zu nehmen? Er hatte eine bessere Idee.
Als er vor dem Zapfen stand, bahnte sich jedoch zunächst ein neues Problem an. Das Eisding war so hoch, dass er die schwarze Hand selbst springend nicht erreichte. Er brauchte ... Das Schwert! Karl wirbelte herum. Da lagen die beiden weißen Haufen, einer für Frigon, der andere für Galatia. Karl schloss die Augen, dann wusste er wieder, wo sein Schwert versteckt war. Aus den Überresten Frigons zog er es hervor.
Schnell streifte er sich den Handschuh über, holte mit Schwert und Scheide aus und fällte ein zweites Mal den eisigen Sockel des Nox. Geschickt fing er in der Rechten den Stein auf. Diesmal war Karl auf die unheimliche Kälte gefasst, die der Nox ausstrahlte. Er legte ihn sofort auf den Boden und zog den Handschuh wieder aus. Danach zögerte er. Wie sollte er den Handschuh über den Nox streifen, ohne diesen zu berühren? Elster hatte ihn ausdrücklich davor gewarnt. »Ich weiß!«, flüsterte er und griff in die Hosentasche.
»Ist zwar nicht aus dem Haar von Albinoeinhörnern gewebt«, murmelte er, »aber für ein paar Sekunden wird's schon langen.« Er faltete das Tuch
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