Isau, Ralf
gewachsen, und im Moment befand sich Karl in diesem ältesten Teil. Man konnte kaum einen Schritt machen, ohne dass irgendwo Dielen oder Balken knarrten. So auch jetzt.
»Ist da wer?«, stieß Spitzelfopp hervor. Er hielt den Kopf schräg, um besser lauschen zu können.
Wieder knarrte ein Bodenbrett unter Karls Fuß. Er wünschte, er hätte Flügel wie dieses garstige Kind namens Täuschel.
Das runzlige Gesicht des kleinen Räubers verzog sich zu einem diebischen Grinsen. »Koreander. Du bist hier, nicht wahr? Hast alles mitangehört.«
Endlich hatte Karl die Treppe nach oben erreicht. Sie würde gewiss noch lauter knarren. Er nahm nun keine Rücksicht auf verräterische Geräusche mehr, sondern rannte so schnell er konnte hinauf. Hinter ihm rief Spitzelfopp nach Verstärkung.
Im zweiten Stock angekommen, versuchte Karl sich kurz zu orientieren. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie sich die Gänge und Zimmer auf das verwirrende Haus verteilten, aber sein Orientierungssinn wies ihm die richtige Richtung. Hinter sich hörte er die Schritte des Verfolgers. Als er sich umwandte, sah er Spitzelfopp näher als erwartet hinter sich. Karl erschrak und verlor fast das Gleichgewicht. Wankend und nach Halt suchend, stieß er gegen die Wand und riss eine dort aufgehängte Lanze aus der Halterung. Die Waffe stürzte mit lautem Knall zu Boden.
»Er ist irgendwo hier oben«, keifte Spitzelfopp.
Karl rannte weiter in die Richtung, in der er sein Ziel vermutete. Plötzlich endete der Gang. Eine Tür! Karl stieß sie auf und warf sie hinter sich gleich wieder zu. Ein schwerer Schlüssel steckte im Schloss. Den drehte er herum.
Sackgasse oder Notausgang? Der Raum, in dem er sich befand, war absolut finster – der Normalfall in Kleptonia. Blind taumelte er voran. Hinter ihm hämmerten Fäuste gegen die massive Holztür. Der kleine einäugige Räuber würde sie wohl allein nicht aufbrechen können, aber die Verstärkung war schon unterwegs. Karl stieß mit dem Schienbein gegen ein Möbelstück und jaulte vor Schmerzen auf. Während er noch mit ausgestreckten Armen durch die Finsternis tappte, hörte er hinter sich ein lautes Krachen, begleitet von einem berserkerhaften Laut. Breschenschläger! Jetzt war er verloren ...
Plötzlich erschien vor ihm ein unförmiger rosenfarbener Lichtfleck. Karl blickte in zwei Augen, die wie riesengroße Rubine aussahen: der Kopf des Glücksdrachen, der immer noch im Schlafzimmer von Elsters Gattin hing. Vor Karls Augen schob er sich langsam aus dem Raum.
Mit wenigen Sätzen war er bei dem Loch. Der große löwenartige Kopf hatte das Haus schon verlassen. Karl sprang. Für einen Augenblick sah er tief unter sich im rosigen Licht den verschneiten Platz. Dann landete er unsanft auf der Schnauze des Glücksdrachen.
»Was war das?«, rief die Pilotin.
»Ich. Karl«, antwortete er und rappelte sich wieder auf.
Geschickt balancierte er über den langen Drachenhals auf das Drachenmädchen und den Bibliothekar zu. Hinter ihm zerbarst die Schlafzimmertür unter dem Gewicht des Breschenschlägers.
»Flieg, Qutopía, flieg, Fuchur«, schrie Karl, während er noch lief.
Das Drachenmädchen konnte seinen Gefährten zwar nicht sehen, war aber auf einen Blitzstart vorbereitet. Der Fluidumkonvektionsantrieb heulte kurz auf und schon schoss der Glücksdrache nach oben.
Der Breschenschläger warf sich zu spät aus der Fensteröffnung und landete ziemlich unsanft im Schnee.
DIE MEISTERBIBLIOTHEKARE
Die Chroniken von Phantásien berichten Widersprüchliches über Elsters Schicksal. Einige nicht sehr zuverlässige Quellen behaupten, er sei von einem seiner Männer, einem Breschenschläger, platt gewalzt worden, als es zwischen ihnen zum Streit kam. Andere Zeugen wollen erfahren haben, dass er von einem großen Wolf gerupft wurde und sich nicht mehr erholte. Die offizielle Version, die sich in den Legenden von Phantásien am weitesten verbreitete, ist jedoch folgende:
Nachdem Elster sich den Nox hatte stehlen lassen, war er für die vereinigten Diebeszünfte von Kleptonia als Anführer untragbar geworden. In Gestalt einer Ratte ertappte ein Wechselbalg namens Camouflagius den großen Elster bei einem schäbigen Raub. Der ehemalige König der Diebe wurde rechtskräftig verurteilt und der Stadt verwiesen. Zum Hohn gab man ihm eine lächerliche Waffe mit auf den Weg, ein Kinderschwert, wie es schien, mit einem Griff aus Holz; irgendjemand hatte es in seinem Palast gefunden.
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