Isau, Ralf
unternehmungslustige Gesicht des alten bemerkte – in welchem Spiegelbild hatte er das doch gleich gesehen? –, da jubilierte er ein zweites Mal.
»Sie scheinen mir ein wenig exaltiert, mein lieber Koreander. Wie kommen Sie überhaupt hierher?«
Karl frohlockte zum dritten Mal.
Herr Trutz wandte sich Hallúzina zu und flüsterte hinter vorgehaltener Hand. »Ist der Junge in den Wald des Vergessens geraten? Er kommt mir so ...« Er wedelte mit der Hand. »Sie wissen schon.«
Hallúzina seufzte. »Nein, mein lieber, verehrungs würdiger Thaddäus, du bist es, den ich vor nun bald einem Jahr, zerschunden und reichlich verwirrt, aus dem Wald des Vergessens gerettet habe, nachdem dein Briefgreif von einem boshaften kleinen Waldschrat vom Himmel geschossen worden war.«
»Die Stimme ...!«, flüsterte Herr Trutz. Seine Augen wurden groß. »Die kenne ich doch ...!« Jetzt klappte sein Kinnladen herunter, und Karl konnte sehen, wie ein Schauer den zähen alten Leib durchlief. »Marie?«
Die Herrin des Erwartungshauses schüttelte traurig den Kopf. »Ich habe mir selbst eingeredet, ich wäre so gut für dich wie deine liebe Frau. Aber das bin ich nicht. Sie ist tot. Ich bin nur eine einsame alte Bäuerin, die auf ihrem Gut lebt und ihren Weinberg bestellt.«
Erst in diesem Moment gingen dem alten Mann die Augen gänzlich auf. Er trat, ein wenig unbeholfen zwar, aber doch beherzt, an Hallúzina heran, nahm sie in die Arme und drückte sie fest an sich. »Ich war ein Narr.«
»Ja, das warst du«, erwiderte sie. Ihre Stimme klang gedämpft aus seiner dunkelblauen Jacke. Karl kam sich vor wie das dritte Rad am Wagen. Er traute sich nur, die beiden aus den Augenwinkeln zu beobachten.
»Nein, was ich damit meinte, ist etwas anderes. Du wolltest mir Marie ersetzen, weil du dich einsam fühltest. Aber im Grunde genommen war ich derjenige, der dich zu dieser Verstellung zwang. Ich habe meine liebe Marie so sehr vermisst!« Herr Trutz schüttelte den Kopf und kämpfte sichtlich gegen einen Tränenausbruch an; ein lautes Schluchzen ließ sich aber trotzdem nicht unterdrücken. »Vermutlich war sie die letzte Erinnerung, die mir der Wald des Vergessens nicht hatte entreißen können. Und ...« Seine Stimme brach.
»Und da bist du ins Haus der Erwartungen gekommen, und das Bild in deinem verwirrten Geist ist Wirklichkeit geworden. Ich habe dich wieder hochgepäppelt und allmählich das Wesen der Frau angenommen, die du in mir gesehen hast. Deshalb war Marie vorhin in der Spiegelwabe zu sehen.« Hallúzina senkte den Blick. »Aber jetzt muss ich dich trotzdem wieder ziehen lassen.«
Herr Trutz entließ sie aus ihren Armen und sagte feierlich: »Ich bin ausgezogen, um Phantásien vor einer großen Gefahr zu retten, aber sollte ich je heil aus dieser Sache herauskommen, dann kehre ich zu dir zurück.«
Ein Ausdruck der Ungläubigkeit erschien in Hallúzinas Gesicht. »Der Abschied von dir ist schon schmerzhaft genug. Willst du mir noch mehr wehtun?«
Sehr sanft erwiderte Herr Trutz: »Nein, mein Liebes. Was ich gesagt habe, ist mein voller Ernst.« Mit einem Mal straffte er die Schultern. »Außerdem steht Thaddäus Tillmann Trutz zu seinem Wort.«
»Aber ...« Hallúzina schüttelte den Kopf. In ihren Augen standen Tränen. »Weißt du denn nicht, was es für ein Menschenkind bedeutet, in Phantásien zu bleiben?«
Herr Trutz seufzte. »Doch. Ich muss alles vergessen, was mich an die Äußere Welt bindet. Ich muss ein Narr werden. Aber jetzt weiß ich, dass es tausendmal besser für mich ist, meine alten Tage an deiner Seite als trotteliger Narr zu verbringen, als mir in einer verstaubten Buchhandlung bis zum Schluss die Beine in den Bauch zu stehen.«
Hallúzina konnte ihr Glück nicht fassen. Immer noch bang, fragte sie. »Und die Phantásische Bibliothek?«
Herr Trutz zwinkerte verschmitzt in Karls Richtung und antwortete ihr: »Für die Nachfolge ist bereits gesorgt.«
»So? Kenne ich den neuen Meisterbibliothekar schon?«
»O ja! Er hat in der letzten Nacht in deinem Gästebett geschlafen.«
Hallúzina wandte sich Karl zu. »Sie?«
Irgendwie klang dieses Sie in seinen Ohren wie ein Vorwurf. »Ich muss mich entschuldigen«, sagte er beschämt. »Mir ist klar, dass ich Sie bis aufs Blut gereizt habe.« Er sah den Meisterbibliothekar an. »Und Sie, Herr Trutz, bitte ich auch um Verzeihung. In der Spiegelwabe, da ...«
»Schwamm drüber«, schnitt ihm der Alte das Wort ab und wurde mit einem Mal genauso hektisch,
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