Isau, Ralf
Liebe?«
»Nachdem der Bote vom Elfenbeinturm sich verabschiedet hatte, habe ich mir Vaters Glücksdrachen geschnappt und bin sofort hergeflogen.«
»Sie haben was?« Herr Trutz japste. Er und seine Gefährtin wechselten verblüffte Blicke.
Qutopía löste sich aus Hallúzinas Umarmung. Die junge Frau wirkte ein wenig verlegen. »Der Glücksdrache ist nicht echt. Mein Großvater hat ihn gebaut. Eine Flugmaschine. Er meinte, die Bewohner Phantásiens brauchten ein wenig Hoffnung in diesen frostigen Zeiten, wo Seuchen grassieren und so viel Leid geschieht. Wenn am Himmel ein Glücksdrache vorüberzieht, dann wird einem das Herz sofort leichter.«
»Aber er ist doch ...falsch«, gab Karl zu bedenken, obwohl er keine Ahnung hatte, wie so ein Geschöpf überhaupt aussah.
Wieder gab Hallúzina die Antwort. »Die Erwartungen sind die Fassade unserer Wirklichkeit, mein lieber Karl. Es kommt nicht so sehr darauf an, ob etwas echt ist, sondern darauf, was es in einem für Gefühle weckt.«
Qutopía grinste. »Sie sollten sich mal mit meinem Vater treffen. Ich wette, der würde Ihnen gefallen.«
»Die Dame Hallúzina ist bereits vergeben«, sagte Herr Trutz spitz. »Im Übrigen würde mich interessieren, ob Sie sich zutrauen, Wolkenburg anzufliegen.«
»Kein Problem«, antwortete Qutopía. Karl bewunderte ihr Selbstvertrauen.
»Die Stadt ist nicht leicht zu finden«, gab Herr Trutz zu bedenken.
»Mein Vater hat Karten von ganz Phantásien.«
»Wohl kaum welche, auf denen eine vagabundierende Stadt abgebildet ist«, mischte sich Karl ein.
Qutopía warf ihm einen vernichtenden Blick zu und beugte sich anschließend zu Hallúzina hinab. »Wer ist das denn?«
»Sein Name lautet Karl Konrad Koreander. Ein Gast aus der Äußeren Welt.«
»Ach deshalb«, sagte Qutopía. Ihr Blick schweifte neugierig zu Karl. Dann warf sie ein »Ich bin gleich wieder da« in die Runde und eilte aus dem Raum.
»Eine sehr impulsive junge Frau«, bemerkte Herr Trutz.
»Vielleicht genau das Richtige für einige Anwesende«, konterte Hallúzina und vermied es, irgendjemanden direkt anzusehen.
Karl stöhnte, weil er in den letzten Minuten ziemlich steif dagestanden hatte und sich sein Bein wieder schmerzhaft bemerkbar machte. Am Tag zuvor hatte er den Verband unterm Hosenbein versteckt und sich seine Verletzung nicht anmerken lassen, sie auch selbst fast vergessen, weil er völlig darauf fixiert war, Hallúzina eine Falle zu stellen.
»Was ist?«, fragte die Herrin des Erwartungshauses.
Karl hob das Hosenbein, wodurch die blutige Bandage sichtbar wurde. »Irgend so ein fliegender Tintenfisch hat versucht, mir das Bein auszureißen.«
Hallúzina eilte herbei, bückte sich und schob vorsichtig den Verband zur Seite. »Das sieht ja grauenvoll aus.«
»Kaum der Rede wert.«
»Mannsbilder!«, schnaubte sie. »Das muss sofort versorgt werden, wenn du deinen Fuß noch eine Weile behalten willst.« Ihre Stimme klang überraschend barsch, aber ihren Worten war zu entnehmen, dass sie den Famulus ihres ehemaligen Schmusibärs längst ins Herz geschlossen hatte.
Karl musste sich am Tisch auf einen Stuhl setzen, das verletzte Bein auf einen Hocker legen und sich Hallúzinas geschickten Händen überlassen. Irgendwo hatte er gelesen, dass so manche auf dem Scheiterhaufen verbrannte Hexe in ihrem Leben nur eine heilkundige Frau gewesen war, die mit Kräutern wahre Wunder zu vollbringen vermochte. Hallúzina fertigte eine Packung aus pechschwarzen Ingredienzien an, die sie am Waldsaum des Amneme gesammelt und zu einem bitter riechenden Brei verarbeitet hatte. Die Pflanzen würden nicht nur die Schmerzen, sondern auch die Verletzung bald vergessen machen, prophezeite sie. Allerdings habe es sich Karl selbst zuzuschreiben, wenn etwas zurückbleibe. Er hätte sich früher melden sollen.
Während sie damit beschäftigt war, die Wunde zu reinigen, lief Herr Trutz ungeduldig im Kaminzimmer auf und ab. Karl musste unwillkürlich schmunzeln. Er hatte noch das Bild des alten, sich auf den Stock stützenden Buchhändlers vor Augen. Jetzt sah die Gehhilfe mit dem silbernen Knauf in der Faust des Meisterbibliothekars eher wie ein Prügel aus, den er jeden Moment in der Luft schwingen würde.
»Sie haben sich verändert, Herr Trutz«, sagte er.
Der Buchhändler blieb unvermittelt stehen und wandte sich ihm zu. Mit einem Mal schlich sich ein Lächeln auf sein entschlossenes Gesicht. »Sie aber auch, Herr Koreander. Inwiefern finden Sie denn, dass ich anders
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