Isenhart
erwiderte Isenhart lakonisch. Er holte mit der Weidenrute aus und schleuderte Schnur und Köder über die Wasseroberfläche.
»Aber er heißt doch schon ›Rabe‹.«
»Jeder Rabe heißt ›Rabe‹. Das wäre ja so, als würden die Raben uns alle ›Hieronymus‹ nennen.«
»Raben nennen uns gar nicht«, empörte Hieronymus sich. Isenhart lächelte ein wenig, weil er seinen ehemaligen Lehrer in Aufruhr versetzt hatte. »Wo kommen wir denn da hin«, fügte der Geistliche hinzu, was natürlich kein Argument war, sondern lediglich ein Zeugnis seiner Entrüstung darstellte.
»Das ist die richtige Frage«, gab Isenhart zurück, und die scheinbare Zustimmung nahm Hieronymus jeden Wind aus den Segeln, »wo kommen wir denn da hin, wenn niemand je losgeht, um zu schauen, wohin man käme, wenn man denn ginge, statt nur zu fragen, wo all das endete.«
Konrad und Hieronymus konnten diesem Gedankengang auf die Schnelle nicht folgen.
»Nenn ihn doch Krähbold«, bot Konrad an.
»Das ist kein schöner Name«, mischte Marie sich ein.
»Ach, schön soll der Name jetzt auch noch sein«, schnaubte Hieronymus. Was wohl als Nächstes kommen würde, fragte er sich, sollte der schwarze Geselle vielleicht bald auch noch mit ihnen zu Tisch sitzen?
Der Kolkrabe nahm ihnen die Namensfindung ab, als er seinen Flügel ohne Einschränkungen wieder benutzen konnte und Isenhart ihm die Schiene, die der Rabe dutzendfach mit dem Schnabel gelöst hatte, entfernte.
Aber der Vogel machte keine Anstalten zu verschwinden. Isenhart lief auf ihn zu und klatschte in die Hände, doch der Rabe, der zwar kurz Zuflucht auf einem Ast suchte, flog nicht davon. Während seiner Rekonvaleszenz hatte er sich an die Menschen um ihn herum gewöhnt, die ihm keine Feder krümmten, insbesondere an jene, die ihn mit Futter versorgten: Sophia und Isenhart.
Letzterer empfand Erleichterung und auch ein wenig Stolz über den wiederhergestellten Flügel. Der Vogel würde es nicht begreifen, aber das lästige Stück Holz, mit dem dieser Mensch ihn während der letzten Wochen behindert hatte, eröffnete ihm wieder den Zugang zu seinem ureigensten Element – dem Himmel.
In diesem Augenblick verließ Marie das Steinhaus, um Wasser aus dem Kanal zu holen. Der Rabe wechselte – warum auch immer – vom Ast auf ihren Kopf.
Marie erschrak zu Tode, ließ den Holzeimer fallen und fuchtelte panisch mit den Armen. »Geh weg«, rief sie, »geh weg!«
An diesem Tag hatte Gweg seinen Namen erhalten.
Konrad und Isenhart ritten auf Heiligster zu. An dem Kanal, der das Anwesen mit Flusswasser versorgte, erhob sich ein hölzernes Wasserrad, das Isenhart konstruiert hatte. Weiter unten stand eine Gestalt in leicht gebückter Haltung bei den Hühnern und verteilte Körner. Isenharts Blick fand sie sofort. Sie richtete sich auf, warf die tiefroten Haare in einer wilden Bewegung zurückund winkte ihnen zu: Sophia. Sie war mittlerweile siebzehn Jahre alt.
Sie ließ von ihrer Arbeit ab und lief ihrem Bruder und Isenhart entgegen. Sophia war dünn wie ihre Schwester und bewegte sich leichtfüßig über die Wiese, bis sie die beiden erreichte und sich mit einem geschickten Sprung hinter Konrad aufs Pferd warf. Sie lächelte, in ihren grünen Augen blitzte der Schalk auf.
»Was habt ihr mitgebracht?«
»Nägel und Butter«, antwortete ihr Bruder, während Gweg von Isenharts Schulter auf Sophias wechselte und sie ihm sanft durch das Gefieder strich.
»Und Mehl«, ergänzte Isenhart.
»Und was gibt es an neuen Geschichten aus Spira?«, fragte sie ungeduldig.
»Das Übliche«, antwortete Konrad, »ein paar Betrunkene, vier Diebstähle, einen Mord.«
»Mord aus Leidenschaft?«
»Aus Habgier.«
Sophias gerade erwachte Begeisterung verflog etwas.
»Was hat sich hier getan?«, fragte Konrad.
»Nichts. Etwas von dem Wasserrad ist abgebrochen.«
»Ich seh’s mir an«, meinte Isenhart.
»Musst du nicht, ich habe es schon repariert«, sagte Sophia. Und als sie Isenharts verwunderten Blick auffing, nahm sie eine stolze Haltung ein.
Zur Feier des Tages spendierte Henrick ein paar Eier, dazu gab es getrockneten Fisch und abgekochten Bärlauch. Sie aßen draußen, im Schneidersitz unter der Eiche. Marie hatte mithilfe des Mehls einen Brotlaib geknetet und in den Ofen geschoben. Der Rauch stieg fast senkrecht in die Höhe, es war nahezu windstill.
Hieronymus zog etwas von dem Fisch durch die Zähne, die das Fleisch von der Gräte trennten. Den Rest warf er in hohem Bogen in den Hof, und
Weitere Kostenlose Bücher