Isenhart
es gleichzeitig.«
»Seid Ihr sicher?«, fragte Henning.
Isenhart nickte: »Seid ihr mit dem Satz des Pythagoras vertraut?«
Der Medicus und sein Sohn waren mehr als erstaunt.
»Ein wenig«, antwortete Henning vorsichtig.
»Gut. Die Route von Spira nach Mulenbrunnen und von dort nach Cannstatt dürfte grob den zwei Katheten eines Dreiecks entsprechen. Der Weg von Spira nach Cannstatt über Helibrunna ist dann die Hypotenuse – also kürzer.«
Konrad bedauerte, in Walther von Ascisbergs Unterricht nicht besser aufgepasst zu haben.
Henning musste lachen. »Ihr seid der eigenartigste Wachmann, der mir je begegnet ist, Isenhart«, stellte er fest, in seinen Augen lag Sympathie. »Aber ich glaube«, fuhr er dann mit ernsterer Miene fort, »wir sollten keine der beiden Routen wählen. Wäre ich Aberak von Annweiler, würde ich dem Vater meines Opfers niemals sagen, wohin mein Weg mich führt. Von Annweiler muss damit rechnen, dass man ihm folgt. Wenn er klug ist, reist er in die entgegengesetzte Richtung.«
Isenhart verspürte bei diesen Worten eine erfrischende Ergriffenheit. Henning von der Braakes Einlassung ließ die Beweglichkeit seiner Gedanken im Ansatz erahnen. In Isenhart keimte die Hoffnung, neben Walther von Ascisberg einen weiteren Menschen getroffen zu haben, dem es vielleicht auch ein Genuss war, seinen Geist ungehindert schweifen zu lassen.
»Annweiler liegt am Fuß des Trifels«, brach Konrad von Laurin das Schweigen, »und wenn er nach dorthin unterwegs ist, könnte er den Schutz von Spiras Stadtmauern für eine Übernachtung suchen.«
Das Schweigen, das Konrad daraufhin entgegenschlug, bestätigte die Richtigkeit seiner Gedanken. Also stiegen sie auf ihre Pferde und nahmen den Rückweg nach Spira in Angriff.
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15.
lexander von Westheim hat Anna nicht ermordet.«
Eigentlich war sich Isenhart bereits beim ersten Anblick der Toten im Stall sicher gewesen. Die Untersuchung der Leiche hatte keine Ahnung zur Gewissheit reifen lassen, sondern die Gewissheit lediglich in allen Punkten bestätigt. Wieder und wieder.
Als er Lilith erblickt hatte, prasselten die Erkenntnisse wie ein wilder Sturzbach auf ihn nieder, ihm war, als ließe dieses Stakkato an Schlussfolgerungen, die sein Verstand wie von alleine zog, ihm keine Luft zum Atmen. Und er fand sich außerstande, seinen Gedanken Einhalt zu gebieten.
Die Art und Weise, wie der Mörder beide Mädchen getötet hatte, unterschied sich ebenso voneinander wie das Werkzeug, das er benutzt hatte, um sich einen Zugang zum Herzen zu verschaffen. Aber er hatte beide getötet, bevor er sich ans Werk machte. Beiden hatte er die Rippenbögen zerstört. Sie bei Anna mit einem stumpfen Gegenstand zertrümmert und bei Lilith zersägt. Und an keiner der beiden hatte der Täter sich vergangen.
Im Geiste bezeichnete Isenhart diese Übereinstimmungen für sich als Eckpunkte. Sie umrissen lediglich – das war ihm klar – das Verbrechen. Dessen Kern stellte das große Rätsel dar: Wozu das Herz?
In Isenharts Vorstellung bildeten die Morde einen Kreis im Nebel. Die Eckpunkte markierten den äußeren Verlauf des Kreises, seine Gestalt. Aber das Zentrum, sein Wesen, entzog sich seinen Blicken.
»Er hatte den Bernstein«, erwiderte Konrad verstockt.
»Wilbrand von Mulenbrunnen hätte den Stein ebenso gut haben können.«
Konrad seufzte und richtete sich im Sattel ein wenig auf. »Duweißt, dass ich mich niemals vor diese Natter stellen würde«, sagte er dann, »aber er war nicht im Besitz des Bernsteins – sondern Alexander von Westheim.«
Isenhart entnahm der Rückenhaltung seines Freundes den Grad an Verstocktheit. Und Konrad saß höchst steif im Sattel.
»Er sagte, der Abt habe ihm den Stein gegeben.«
»Ja, und das war eine Lüge.« Die Inbrunst, mit der Konrad das vorbrachte, offenbarte die Unsicherheit, die er in Wirklichkeit verspürte.
Für einige Augenblicke fand Isenhart sich ratlos, denn es dürstete ihn keineswegs danach, recht zu haben, sondern ein Einvernehmen zu erzielen, auf deren Basis sie gemeinsame Überlegungen nach dem wahren Täter anstellen konnten. Konrad, dessen war er sich sicher, bezweifelte von Westheims Unschuld nicht länger, er wollte sie bloß nicht wahrhaben.
Es gibt nichts Zwingenderes als die Logik.
Walthers Credo. Ein Satz, den er im Zuge des Unterrichts eher nebenbei hatte fallen lassen, den Isenhart sich aber gleichwohl gemerkt hatte. Das eigentlich Subversive an diesem Gedanken sollte Isenhart sich erst
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