Isenhart
Vers 15 und 16 lernen«, erwiderte Isenhart vorsichtig.
»Aber bis Vers 20 lesen«, entgegnete Hieronymus und beugte sich zu ihm herab. »Die Leute im Ort erzählen sich merkwürdige Dinge über dich, wusstest du das?«
Isenhart schüttelte den Kopf, ihm war schleierhaft, warum das Gesinde überhaupt Worte für ihn verschwenden sollte, den elfjährigen Sohn eines Pinkepanks.
»Dein Gedächtnis soll außergewöhnlich sein.«
»Noli timere ego sum primi«, zitierte Isenhart.
»Primus«, korrigierte Hieronymus. »Nun, mir scheint es nicht außergewöhnlich«, fügte er hinzu und ließ den Rohrstock auf Konrads Finger niedersausen. Der verzog vor Schmerz das Gesicht, zog aber die Finger nicht zurück.
»Ego sum primus«, verbesserte Isenhart sich und war bemüht, Konrads Blick auszuweichen.
Hieronymus nickte: »Fürchte dich nicht. Ich bin der Erste – weiter, Isenhart.«
»Et novissimus et vivus et fui mortus …«
»Mor-tu-us«, korrigierte der Geistliche. Der Rohrstock zischte durch die Luft. Die Schmerzen, die Konrad von Laurin erleiden musste, darüber war Isenhart sich nicht minder schmerzlich im Klaren, würden ihm heimgezahlt werden. Da Konrad nicht eben die Geduld in Person war, würde das schon sehr bald nach Unterrichtsende der Fall sein.
Während er fieberhaft überlegte, wie er dem entgehen konnte, unterlief ihm der nächste Fehler: »Et ecce sum vivens in saecula saeculorum et habeo clades …«
»Cla-ves«, sagte Hieronymus mit einem leichten Lächeln. Dieses Mal schlug er so heftig zu, wie er konnte, denn üblicherweise rief das Auffrischen des Gedächtnisses mithilfe des kleinen Holzes Wehklagen hervor, was der junge Herr sich aber zu untersagen schien. Zum Bedauern des Geistlichen und der wachsenden Bewunderung Isenharts kam abermals kein Laut über Konrads Lippen.
»Et habeo cla-ves mortis et inferni.«
»Perfekt«, lobte Hieronymus und ließ den Rohrstock unerwartet ein letztes Mal auf Konrads Hände sausen, dieses Mal erwischte er die Kuppen und der junge Herr stöhnte auf, »aber nicht frei von Ironie, Isenhart. Nicht frei von Ironie.«
Konrad warf Isenhart einen vorwurfsvollen Blick zu.
»Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige; ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel der Hölle und des Todes«, übersetzte der Geistliche die abgefragte Bibelstelle, »ich habe es deinetwegen ausgewählt.«
Sein Blick ruhte auf Isenhart.
»Du wirst dermaßen Prügel bekommen«, zischte Konrad.
»Wie war das?«, fragte Hieronymus.
»Ich lobte den Herrn«, antwortete Konrad von Laurin.
Hieronymus schritt erneut durch die Kapelle, während Konrad sich die malträtierten Finger rieb, die bereits anschwollen.
»Und nun du, Konrad. Dieselbe Bibelstelle.«
»Gerne«, seine Schmerzen waren schon halb vergessen. Isenhart starrte den Geistlichen ungläubig an.
»Finger ausstrecken«, befahl Hieronymus.
Isenhart kassierte vierzehn Schläge für ein Zitat, das aus 25 Wörtern bestand. Aber über seine Lippen kam kein Laut, keine Träne tropfte von seinen Wimpern.
Seine Finger waren so stark angeschwollen, dass er nicht einmal mehr eine Tür öffnen konnte und sie deshalb eine ganze Weile in den Fluss tauchte. Konrad hockte sich neben ihn und versenkte seine Finger ebenfalls in das wohltuend kalte Wasser.
»Das war keine Absicht«, sagte Konrad schuldbewusst.
»Die ersten drei Fehler schon.«
Konrad war peinlich berührt, Isenhart hatte ihn durchschaut. »Du bist ein Knecht«, rettete er sich.
Isenhart verschluckte sich fast vor Wut: »Aber meine Finger haben dieselben Schmerzen!«
Isenhart war ziemlich schlau, wurde Konrad bewusst, auf nahezu alles hatte er eine gute Antwort.
Er wollte schon fast so etwas sagen wie »tut mir leid«, aber sein Vater hatte ihm eingeschärft, dass ein Nobile sich niemals gemein mit dem Gesinde machen dürfte. Das sei der Anfang vom Ende.
»Wir können ja irgendwas zusammen machen«, sagte er deshalb in aufmunterndem Ton, »Armdrücken oder so.«
»Lass mich in Ruhe.« Isenhart zog seine Finger aus dem Wasser und ging.
Hieronymus erkrankte wenig später, sein Körper wurde an den Lenden und unter den Achseln von Abszessen heimgesucht, außerdem plagte ihn starkes Fieber. Der Barbier des Hauses Laurin, der den Aderlass wie so viele seiner Zunft als Allheilmittel praktizierte, scheiterte an der Heilung des Geistlichen. Er ließ bis zu drei Liter Blut an Stirn und Unterarm ab –
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