Isenhart
natürlich nicht bei Vollmond, das brachte Unglück –, sodass Hieronymus kurzzeitig mehr tot als lebendig war.
Die Scheinheiligkeit, mit der Konrad und Isenhart Hieronymus’ womöglich bevorstehende Begegnung mit seinem Schöpfer in Worten und Gesten bedauerten, war die erste Gemeinsamkeit, die sie entdeckten.
Auf Bitte Sigimunds von Laurin entsandte Wilbrand von Mulenbrunnen, der Abt des Klosters zu Mulenbrunnen, einen jungen Gelehrten zum Hause Laurin. Sein Name war Stephan der Jüngere.
Der Medicus schien Geistliche nicht sonderlich zu schätzen – Isenhart und Konrad waren ganz seiner Meinung, und Konrad wagte den Rat, den Abszessen mit einigen gut gemeinten Rohrstockhieben zu Leibe zu rücken. Demgegenüber stand die Überzeugung des Barbiers, der Sache mit einem riskanten Aderlass am Hals zu begegnen.
Stephan der Jüngere entschied sich für keines von beidem. Nachdem er den Kranken ausgiebig untersucht hatte, verlangte er nach Wermutwasser, Kupfervitriol, ungelöschtem Kalk und Schwefel. Das Gesinde rümpfte die Nase, aber Sigimund von Laurin sorgte dafür, dass der Medicus umgehend erhielt, wonach er verlangte.
Wein und Salz hatte der junge Gelehrte selbst mitgebracht; damit rieb er die Abszesse zunächst ein, um sie auszutrocknen und Hieronymus gleichzeitig Linderung zu verschaffen.
»Wessen Lehre wendet Ihr an?«, fragte Hieronymus mit fiebrigen Augen.
»Ich behandle Euch nach den vier Säften des Galenos«, erwiderte Stephan der Jüngere, woraufhin der Geistliche erleichtert seinen Kopf auf das Strohkissen senkte.
»Die Säfte des Galenos«, sagte der Barbier, »was soll das sein? Der einzige Saft des Lebens ist Blut, und er wird mit Aderlass reguliert.«
Die Behandlung von Stephan dem Jüngeren schlug an, der junge Medicus verließ das Haus Laurin, und Vater Hieronymus nahm seinen Unterricht wieder auf. Wobei die Lehre auf den Horizont eines Geistlichen beschränkt blieb, nämlich auf Latein und das Vermögen, die Bibel zu verstehen und Teile von ihr zu rezitieren.
Hieronymus empfand zwar Dank gegenüber dem Medicus, aber insgeheim war er von der Gnade des Allmächtigen überzeugt, der sich von den Gebeten des Geistlichen hatte erweichen lassen.Gleichzeitig war Hieronymus nicht so blauäugig anzunehmen, der Schöpfer habe ihm zu Ehren seinen Weltenplan geändert. Also sollte er Gottes Werkzeug sein, nur darin konnte der Sinn seiner Genesung liegen.
An dem Morgen, an dem das Fieber, das ihn seiner Kräfte und Sinne beraubt hatte, endlich von ihm abließ, war das Erste, was er sah, wie Konrad und Isenhart den Burghof überquerten. Und er verstand, dass er sein Werk an ihnen zu vollenden hatte. Hieronymus beschloss, ihnen auch noch die Grundrechenarten beizubringen.
Konrad und Isenhart hatten begriffen, dass die Unterweisung durch Hieronymus sie zu einer Art Schicksalsgemeinschaft verurteilt hatte.
»Einer trage des anderen Last«, sagte Hieronymus gerne, für ihn ein Inbegriff der Christlichkeit, für Isenhart der Menschlichkeit und für Konrad leeres Geschwätz.
Trotzdem kniete Konrad von Laurin sich in die Arbeit, redete zwar weiter von Knechten und Herren, war dann aber so gut vorbereitet, dass Isenhart meist mit unter fünf Rohrstockhieben davonkam.
»Ich hab’s nicht deinetwegen getan«, sagte Konrad schnell, als er Isenharts anerkennenden Blick auffing.
Dort, wo Hieronymus’ Lehre ihre natürliche Begrenzung erfuhr, trat Walther von Ascisberg auf den Plan. Auch er führte den Rohrstock, der in der Lage zu sein schien, Faulheit und Desinteresse ausfindig zu machen und ohne Federlesens zu bestrafen. Aber er machte davon selten Gebrauch. Und anders als Hieronymus, der auf Konrad immer ein klein wenig Rücksicht nahm, behandelte von Ascisberg Konrad und Isenhart, als entstammten sie beide der fürstlichen Linie.
Er setzte sie davon in Kenntnis, dass im Heiligen Römischen Reich nur etwa jeder Fünfzehnte des Lesens und lediglich jeder Zwanzigste des Schreibens mächtig war.
Er brachte ihnen bei, dass der menschliche Körper sich mithilfe der Elle exakt vermessen ließ. Dass die Schraube sich hervorragend eignete, um Kräfte zu übertragen, dass die Erde umspannt war voneiner Hülle, in der die Sterne sich in Bahnen bewegten, deren Gesetzmäßigkeiten noch nicht gänzlich bestimmt waren.
»Ein gleichwinkliges Dreieck«, sagte Walther von Ascisberg und zeichnete es in den Sand vor der Kapelle, »ist ein Dreieck, in dem die Summe aller Winkel stets 180 Grad ergibt.«
Isenhart
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