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Isenhart

Isenhart

Titel: Isenhart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Karsten Schmidt
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Totenschädel und Gebeine gestapelt, zwischen denen ganze Generationen von Spinnen ungestört ihr eigenes Reich errichtet hatten.
    Anna hatte Spinnen nicht leiden können, entsann Isenhart sich. Waren ihre Art, sich zu bewegen, und ihre Größe Grund genug, sie zu töten? Waren sie nicht auch Gottes Geschöpfe?
    Seine Gedanken wurden von einer Entdeckung unterbrochen, die er auf der anderen Seite des Gewölbekellers machte: Pergamente! Er marschierte darauf zu, als existierte ein unsichtbarer Strang, mit dessen Hilfe er zielgenau durch den Raum gezogen wurde. Henning gesellte sich voller Neugier sofort zu ihm.
    Isenhart wendete das erste Blatt mit einer benahe feierlichen Geste. Es offenbarte eine Tintenzeichnung von ungeahnter Feinheit. Neben der Zeichnung selbst, die einen Querschnitt durch denUnterarm darstellte, hatte der Verfasser seine Anmerkungen am Rand des Pergaments in lateinischer Sprache festgehalten.
    »Ist das ein Unterarm?«, fragte Konrad, die Stirn in Sorgenfalten gelegt.
    »Ja«, bestätigte Henning, ohne den Blick von der Zeichnung zu heben. In seiner Antwort schwang weder Schrecken noch Entsetzen mit, dafür kam sie ihm viel zu sanft über die Lippen. Sie trug das gleiche Erstaunen in sich, das auch Isenhart bei dem Anblick der Zeichnung ergriffen hatte.
    Isenhart nahm das nächste Stück Pergament zur Hand. Sie sahen ein Viereck, von dem vier Linien in die Senkrechte nach oben fuhren – und eine nach unten. Isenhart runzelte die Stirn, blickte zu Henning, der ein Achselzucken andeutete und statt eines Erklärungsversuches das nächste Pergament über die merkwürdige Zeichnung legte. Dieses präsentierte ihnen einen Querschnitt durch den menschlichen Kopf, der die verschiedenen Schichten freilegte. Es begann bei der Haut, legte dann Adern und Nervenbahnen offen, passierte neben Zähnen die Kiefer- und Schädelknochen, um im Gehirn zu enden, in das er ebenfalls Einblick gewährte.
    »Was für ein Ungeheuer«, entfuhr es Konrad heiser. Er bekreuzigte sich. Von Isenhart und Henning kam keine Antwort, ja, überhaupt keine Reaktion, wie Konrad bemerkte. »Eine Bestie«, schob er daher nach.
    »Ja«, pflichtete Henning ihm lahm bei.
    Isenhart zog die nächste Zeichnung hervor. Er hätte nicht benennen können, was es darstellen sollte, wenn Michael von Bremen auf dem Umriss eines menschlichen Körpers daneben nicht die Stelle markiert hätte, an der es sich befand: das Herz.
    »Was soll das sein?«, fragte Konrad, den die Einsilbigkeit der anderen zunehmend irritierte.
    »Das Herz«, antwortete Isenhart leise.
    Henning und Günther, der sich zu ihnen gesellt hatte, nickten.
    »Dieser unförmige Haufen soll ein Herz sein?«
    Sie antworteten Konrad nicht. Die Zeichnung der Schichten des Kopfes war viel zu detailliert, um der Imagination zu entspringen, das war Isenhart bewusst. Folgerichtig wusste von Bremen auch beim Herz ganz genau, wie es aussah.
    »Das ist großartig«, gab Henning leise von sich.
    Isenhart musste sich eingestehen, dass er für dieses Bekenntnis zu feige gewesen war.
    »Großartig? Er hat sich an Gottes Geschöpfen vergangen!« Konrads Entrüstung war echt. Es war offensichtlich, dass Michael von Bremen seine Skizzen nicht aufgrund von Vermutungen entworfen hatte. Also mussten sie das Ergebnis von Sektionen sein.
    Hennings Seufzen erklang so leise, dass es ausschließlich an Isenharts Ohren drang. »Sie waren schon tot, Konrad«, antwortete er ruhig, »ihre Seelen waren aufgefahren, und sie hatten für ihre Hüllen keine Verwendung mehr.«
    Konrad von Laurin war wie vor den Kopf gestoßen. »Eine dieser Hüllen gehörte meiner Schwester!«
    Isenhart schluckte. Ihm war, als hätte ihm jemand, während er etwas Verbotenes tat, die Hand auf die Schulter gelegt. »Das stimmt«, stellte er daher fest.
    Henning nickte kaum merklich, löste den Blick von den Pergamenten und richtete ihn dann auf Konrad: »Es war dumm von mir. Ich habe das nicht bedacht.«
    Der junge Laurin nickte. Dass Henning und auch Günther ihn irritierten, verwunderte ihn nicht. Doch bei Isenhart verhielt es sich anders. Konrad meinte, ihn in- und auswendig zu kennen. Während das Weibsvolk alles ein viertes, fünftes und leider auch sechstes Mal besprach, von allen Seiten wendete, noch einmal durchkaute – all das freilich ohne jeden neuen Erkenntnisgewinn, sodass es augenscheinlich allein mit ihrem angeborenen Genuss am Schwatzen zu erklären war –, genügte Isenhart und ihm oftmals nur ein kurzer Blick, um

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