Isenhart
Das ist die eine Sache. Die andere Sache sind die Erkenntnisse, die er über den Aufbau des menschlichen Körpers gewonnen hat.«
»Ich kann das nicht trennen«, bekannte Konrad und nahm Isenhart mit diesem offenen Bekenntnis den Wind aus den Segeln, »ichkann es nicht. Und … und es macht mir das Herz schwer, dass du das kannst.«
Er wusste es nicht besser zu formulieren, aber das war auch nicht nötig, denn Isenhart meinte Konrads Ohnmacht beinahe körperlich zu spüren. Der Schmerz, den Konrad empfand, rief in ihm Mitleid hervor. Nichtsdestotrotz gab es neben seinen Empfindungen noch andere, sachliche Erwägungen, die er nicht verleugnen konnte.
»Der Raub der Herzen und die Morde, die er deswegen begangen hat«, sprang Henning ihm zur Seite, »das hat nichts mit diesen Zeichnungen zu tun, Konrad.« Um hinzuzufügen: »Außer mit der einen.«
»Trotzdem bleibt es ein Verbrechen, sich an den Toten zu vergehen«, hielt Konrad entgegen, dem sehr wohl bewusst war, wie er in dem sachlichen Wettstreit Stück für Stück an Boden verlor. Aber im Zweifelsfall – und dieser Moment war so einer – vertraute er mehr auf seinen Bauch als auf seinen Verstand.
»Wer verbietet es denn?«, fragte Isenhart.
»Unser Schöpfer!«
»Hat er dir das gesagt? Hat er zu dir gesprochen?«
»Gott offenbart sich auf vielfältige Weise«, wich Konrad von Laurin aus. Er konnte Isenhart an der Nasenspitze ablesen, dass er sich mit diesen Worten exakt in jene Position gebracht hatte, in der Isenhart ihn sich wünschte. Dem wiederum kam dieser Satz nur allzu bekannt vor, es war, als stünde Hieronymus unsichtbar neben ihnen und würde Konrad soufflieren.
»Und wer sagt das? Wer verbietet es uns, den menschlichen Körper zu erforschen?«
»Unser Glaube«, antwortete Konrad.
»Nein«, entgegnete Isenhart entschieden, »die Kirche verbietet es. Und von jeder ihrer Kanzeln wird es verkündet.«
»Es ist Gottes Wille«, warf Konrad seinen letzten Trumpf in den Streit.
»Gottes Wille ist doch keine abschließende Erklärung für alles! Oder kann man damit erklären, warum die Bäume im Winter ihr Laub verlieren?«
»Man muss nicht alles erklären können«, brachte Konrad hervor, »manches bleibt unergründlich. Und das soll auch so sein.«
»Unwissen ist niemals gut«, widersprach Isenhart. »Wenn wir das Flugverhalten der Vögel ungestört studieren könnten, wenn wir es umsetzen könnten, ohne dafür bestraft zu werden«, er hielt ihm den Stumpf seines kleinen Fingers entgegen, »vielleicht wäre es dann allen Menschen gegeben, sich in die Luft zu erheben. Das wäre Fortschritt. So wie das hier«, fuhr er fort und deutete wieder auf die Zeichnungen in seiner Hand. »Gottes Wille ziehen wir nur für all die Fragen heran, die unser Verstand noch nicht beantworten kann.«
Nur bei der Schilderung von Annas Tod hatte Henning von der Braake sich Isenhart mehr verbunden gefühlt als jetzt. Für Konrad dagegen kappten diese Worte seines Freundes die letzten Leinen, die sie noch verbanden.
»Weil sie sonst verdursten«, sagte Henning leise. Die Blicke wandten sich ihm zu, niemand konnte diese Feststellung einer Frage zuordnen. »Die Bäume«, fügte der junge von der Braake deshalb hinzu, »sie werfen ihr Laub ab, weil sie sonst verdursten.«
Günther verdrehte ein wenig die Augen, anscheinend verlieh sein Sohn diesem Gedanken nicht das erste Mal Ausdruck. Isenhart und Konrad waren dagegen wie vom Donner gerührt. Konrad erinnerte sich noch sehr genau an diese These, und erst jetzt wurde ihm gewahr, dass es eigentlich sie war, die die Wegscheide ihres Entfremdens markierte. Und Isenhart war noch sehr gegenwärtig, wie Vater Hieronymus darüber in Wallung geraten war, wie er ihm mit pulsierender Ader ketzerische Gedanken vorgeworfen hatte.
Henning interpretierte ihre Mienen falsch. »Ich weiß«, brachte er deshalb unsicher hervor, »das klingt unsinnig.«
»Ganz und gar nicht«, antwortete Isenhart, der sich als Erster wieder gefasst hatte, »nein, ganz und gar nicht. Es ist die sinnfälligste Erklärung überhaupt.«
»Was habt ihr Gesindel auf meinem Grund und Boden verloren«, donnerte eine Stimme hinter ihnen. Einer aufgescheuchten Kinderschar gleich wirbelten sie herum, alle vier, die viel zu sehr in ihrem Disput versunken gewesen waren, um die Schritte zu hören, mit denen der Burgherr sich genähert hatte.
Michael von Bremen maß über sechs Fuß, und von seinem Schädel wellte sich graues und rotes Haar bis hinab über die
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