Isenhart
sondern wegen seiner eigenen Unfähigkeit, die Frage nach der Strecke bis zum Grimselpass in eine für Urs verständliche Form zu übersetzen.
»Das ist ein Fuß«, versuchte Isenhart es erneut und deutete auf seinen eigenen, »wie viele Füße müsste man aneinanderreihen, um den Grimselpass zu erreichen?«
Urs’ Kinnlade klappte vor gedanklicher Anstrengung nach unten. Ganz offensichtlich sprengten die Zehntausende an Füßen seine Vorstellungskraft. Davon abgesehen, wie hätte der junge Franke die Anzahl der benötigten Fußlängen beziffern sollen? Das begriff nun auch Isenhart. Ein längeres durch ein kürzeres Maß zu ersetzen, beseitigte nicht die eigentliche Barriere: Urs’ Unkenntnis jener Millionen Zahlen, die das Wort »viele« umschloss.
»Müssen wir einmal, zweimal oder dreimal das Nachtlager aufschlagen, bevor wir den Grimselpass erreichen?«, fragte Konrad.
»Zweimal«, sagte Urs erleichtert.
Sie kehrten um.
Der April 1196 zeigte sich in Luceria ungewohnt mild. Mild genug, um einen zweiten Anlauf zu wagen. Tatsächlich waren die Schneemassen, die sie noch im März auf dem Brünigpass zur Umkehr gezwungen hatten, nahezu ausnahmslos geschmolzen.
Der Aufstieg in den Eingang des Grimselpasses erwies sich alshöchst anstrengend, da der Scheitelpunkt des Übergangs nur wenig niedriger lag als jener am Vogelberg, nämlich rund 5850 Fuß. Isenhart meinte fast zu spüren, wie die Umgebungstemperatur mit jedem zurückgelegten Höhenmeter abfiel.
Auch für die Tiere, die eine nicht unerhebliche Last an Proviant trugen, wurde der Aufstieg zu einer Herausforderung. Isenhart registrierte überrascht, wie alle – die Pferde mit eingeschlossen – auch im Ruhezustand schneller atmeten. Er führte diesen Umstand auf ihre aktuelle Höhenposition zurück, ohne den Grund dafür benennen zu können.
Auf dem ersten Drittel des Klausenübergangs wiederholte sich die Geschichte. Sie versanken im Schnee. Die Berge unterlagen ganz offensichtlich anderen Gesetzmäßigkeiten als jenen, die Isenhart gewohnt war. Ihm erschienen sie beinahe als lebendige Wesen, die ihre Immobilität mit gigantischer Größe wettmachten und ihm, diesem kleinen Stück Mensch, aus purer Bosheit trotzten. Aber es half nichts. Die Berge zwangen sie abermals zur Umkehr.
Während sie in Luceria erneut auf bessere Wetterverhältnisse warteten, studierte Isenhart ein ums andere Mal die Skizzen seines Vaters.
Sydals Zeichnung eines Rechtecks, an dessen vier Eckpunkten sich Linien senkrecht nach oben erhoben und nur eine ebenso senkrecht, also in einem Winkel von neunzig Grad, nach unten erstreckte, rief seine größte Neugier hervor, auch wenn er außerstande war, den Grund für seine Faszination zu benennen. Vielleicht, weil sich hinter dieser Zeichnung, deren Sinn selbst Walthers Geist nicht aufzuspüren vermocht hatte, ein komplexes Geheimnis verbarg, das wiederum ein Beleg für den Umstand sein konnte, dass Sydal von Friedberg ebenfalls außerhalb seiner Zeit gestanden hatte. Etwas also, was Vater und Sohn verband, auch wenn Isenhart nicht recht wusste, ob er das als angenehm oder unheimlich empfinden sollte.
Bevor sie sich ein drittes Mal aufmachten, suchte Urs Rat bei seinem Vater, Linardin Kuhfuss, um einen weiteren Fehlschlag zu vermeiden.
Für jemanden, der Kuhfuss hieß, räsonierte Konrad, lag es vielleicht sogar nahe, seinen Sohn Urs zu nennen.
Linardin Kuhfuss jedenfalls, ein Mann von Mitte dreißig, sparte an allem. Er heizte im Winter kaum, denn Holz erschien ihm teuer. Seine Frau kleidete sich in die Überbleibsel dreier Kleider. »Wärmt auch«, stellte Kuhfuss gerne fest, der sich selbst das Schuhwerk versagte und sich hauptsächlich von Wasser und Brei ernährte, um nicht in den Verdacht der Völlerei zu geraten.
Urs war nichts weiter als ein Versehen gewesen, denn Kinder erschwerten einem den Lebensunterhalt, den Linardin sauer und beschwerlich mit der Herstellung von Sbrinz bestritt, einem Käse, der – hatte er erst einmal zwei, drei Jahre auf dem Buckel – vorzüglich schmeckte.
»Mein Vater ist ein Meister im Sparen«, warnte Urs Konrad und Isenhart mit stolzer Miene vor. Sie folgten dem Jungen zu einer verfallenen Bretterbude, die zwischen einem Lehm- und einem Steinbau aus der Gasse herausstach. Auch, weil aus ihr im Gegensatz zu den Nachbargebäuden kein Rauch aufstieg.
»Last«, sagte Linardin Kuhfuss nur, als er die beiden Männer musterte, die sein Sohn hierhergebracht hatte.
»Wir müssen«,
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