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Isenhart

Isenhart

Titel: Isenhart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Karsten Schmidt
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um die von Hippokrates ausgehende Lehre vom Gleichgewicht der Säfte, die der griechische Arzt und Gelehrte Galenos von Pergamon verfeinert hatte. Isenhart haftete noch sehr genau im Gedächtnis, wie Hieronymus nach dieser Lehre behandelt und geheilt worden war.
    »Jeder Mensch besteht aus diesen vier Lebenssäften: Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle«, fuhr der Geistliche fort.
    Konrads Augenlider senkten sich und gönnten ihm eine Pause vom Sonnenlicht, das ihn heute Morgen eigenartig grell heimsuchte.
    Der Rohrstock durchschnitt die Luft so schnell, dass er ein giftiges Surren verursachte, bevor er auf Konrads Fingerkuppen niederfuhr. Der zuckte vor Überraschung und Schmerz zusammen.
    »Aufstehen«, befahl Hieronymus, seine Nasenflügel blähten sich auf.
    Konrad schoss in die Höhe, für einen Sekundenbruchteil glitzerte in seinen Augen die blanke Mordlust.
    »Bleib stehen«, sagte der Geistliche ungerührt, »das belebt die Geister.«
    Die vier Säfte, so Hippokrates’ Theorie, standen in Verbindung mit den Zuständen der unbelebten Welt: warm, kalt, feucht und trocken. »Es ist die Theorie von Gleichgewicht und Ungleichgewicht«, erklärte Hieronymus, »aber auch die Theorie vom Temperament eines Menschen.«
    Laut Hippokrates und Galenos bestimmte das Vorherrschen eines Saftes auch das seelische Temperament des Menschen. Lag ein Ungleichgewicht zugunsten des Blutes vor, so hatte man es mit einem Sanguiniker zu tun, der sich durch sein lebhaftes Wesen und seine Heiterkeit auszeichnete; Isenhart musste unweigerlich an Anna denken. Was nichts zu bedeuten hatte, da er seit Wochen sowieso ständig an sie dachte.
    Ein Übermaß an Schleim begründete den Phlegmatiker, dessen prägnanteste Eigenschaft die Trägheit war. Konrad und Isenhart blickten bei Hieronymus’ Erklärung unabhängig voneinander in den Hof, in dem Henrick sich um seine Cochins kümmerte.
    Dann waren da noch die schwarze und die gelbe Galle.
    »Der Choleriker wird von der gelben Galle geleitet«, erläuterte Hieronymus. »Galenos hat ihn als aufbrausenden Menschen beschrieben.«
    »Da fällt mir niemand ein«, meinte Konrad und sah zu Isenhart, »dir?«
    Isenhart grinste, schüttelte aber den Kopf.
    »Was gibt’s denn da zu grinsen?«
    »Nichts.«
    Der Melancholiker schließlich, dem Schwermut und Trübsinn zugeneigt, litt der Hippokratischen Lehre nach an zu viel schwarzer Galle.
    »Nur, wenn sich alle vier Säfte im Gleichgewicht miteinander befinden, geht es dem Menschen gut. Hat er von einem der Säfte zu viel oder zu wenig, wird er erkranken«, schloss Hieronymus. Er warf einen ehrfürchtigen Blick auf den Holzsplitter.
    »Da hat Hippokrates aber einen Lebenssaft vergessen«, merkte Konrad mit scheinheiliger Miene an.
    Hieronymus riss sich vom Anblick des Spans los. »Blut, Schleim,gelbe und schwarze Galle«, zählte er auf, »das sind die vier Säfte. Welcher sollte der fünfte sein?«
    »Einer, der den Männern vorbehalten ist«, erwiderte Konrad und grinste breit.
    Hieronymus lief puterrot an.
    Sicher, da war die Geschichte mit Bruder Reinhold gewesen, nach schwerem Tagewerk hatten sie die Kutten abgelegt und im Fluss nach Erfrischung gesucht. Die Körper junger Männer, die durchs Wasser glitten, eine zufällige Berührung hier, ein heimlicher Blick dort. Tropfen auf nackter Haut, am Ufer, hin und wieder schoss Hieronymus diese Erinnerung durch den Kopf.
    Etwas war über sie gekommen, Reinhold und er wurden von einer animalischen Geilheit erfasst, die sie diese Dinge tun ließ.
    Hieronymus dachte mit tiefer Abscheu an jenen Nachmittag zurück. Gott hatte ihn in Versuchung geführt, und er hatte sich als unwürdig erwiesen. Reinhold zog ins Heilige Land, angeblich war ihm Jesus im Schlaf erschienen, aber Hieronymus wusste es besser. Reinhold wollte die Sünde, die eine Reihe schöner Gefühle mit sich gebracht hatte, durch seinen Bußgang ungeschehen machen.
    Im Hafen von Genua, wo er sich um eine Überfahrt nach Tripolis bemühte, wurde er von Wegelagerern erstochen. Hieronymus schämte sich für die Erleichterung, die er empfunden hatte, als die Nachricht ihn erreichte. Ihr Geheimnis ruhte nun allein bei ihm.
    Aber darauf konnte Konrad von Laurin, dieser ungehobelte Spross einer Linie, die sich bisher nicht gerade durch übermäßige Gottesfürchtigkeit hervorgetan hatte, unmöglich anspielen.
    »Solch eine Bemerkung ist Eures Standes unwürdig«, befand Hieronymus daher und trat an Konrad heran, der ihm an Körpergröße

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