Isenhart
betritt«, tröstete er ihn, »man glaubt, man werde den Abstand niemals aufholen. Man denkt, dass auch zehn Lebensspannen nicht ausreichen, um sich das Wissen anzueignen, über das die anderen zu verfügen scheinen.«
»Ja«, stieß Isenhart ebenso dankbar wie bedrückt hervor, »ja, genau so ist es.«
Benjamin nickte, in seinen Augen lag tiefes Verständnis für Isenharts Kummer.
»Glaubt mir, wir stehen hier alle noch weit am Anfang. In der Puente wie überhaupt in der Welt zählt nicht der Berg an angehäuftem Wissen, das Ihr rezitieren könnt, sondern ausschließlich der Grad an Fertigkeit, es anzuwenden. Das Wissen anderer allein führt niemanden zu neuen Ufern. Es bedarf dazu immer auch der Kraft eines Geistes, der den nächsten Schritt ins Unbekannte wagt.«
Am Abend brummte Isenhart der Schädel.
Während die anderen die interessantesten Aspekte der heutigen Diskussionen bei Rebhuhn und Wein Revue passieren ließen, widmete er sich ganz seiner Mahlzeit. Den zahlreichen Möglichkeiten, einen Geflügelschenkel anzuknabbern etwa, oder er versank in der Betrachtung eines hölzernen Schemels oder einer Kerzenflamme. Die einfache Struktur dieser Dinge übte eine erholsame Wirkung auf seinen Verstand aus, der noch nie so intensiv wie am heutigen Tage in Anspruch genommen worden war.
Ibn Khamud hatte Isenhart einen kleinen Vorgeschmack davon vermittelt, als er ihm und Konrad von den Unterhaltungen zwischen Sydal von Friedberg und Al-Hariq berichtete. Exakt nach diesem Muster war der gesamte Tag verlaufen.
Die Gelehrten sprangen mit ihren Gedanken von der Astronomie zur Astrologie, sie streiften die Optik, die Sinusfunktion und die Struktur des Auges. Unermüdlich ging es von dort zur Landwirtschaft und der sinnvollsten Form von Pflügen, dem besten Zeitpunkt der Wintersaat, um dann aufgrund eines Einwurfs plötzlich in die Erörterung des Sinns der Liebe zu münden.
»Kinder«, sagte Konrad, der sich für die Abendmahlzeit zu ihnen gesellt hatte, »was denn sonst?«
Und er erntete gelöstes und wohlmeinendes Gelächter.
Die Abendsonne hatte, während sie sich unweigerlich auf den Horizont fortbewegte, die wenigen Wolken am Firmament unterschritten und setzte sie mit ihrem tiefroten Schein von unten in Brand, als Isenhart die filigrane Gestalt Benjamins oben auf dem Dach entdeckte.
Das Dach des Gebäudes war flach und mit einer reichlich verzierten Brüstung versehen. Isenhart schlenderte hinauf.
Der Jude blickte nur kurz auf, schenkte ihm aber ein freundliches Lächeln. »Schon mal gesehen?«, fragte er und hielte Isenhart das Stück Pergament vor die Augen, über das er sich eben noch selbst gebeugt hatte.
Isenhart warf einen interessierten Blick auf die Symbole. Aber er hatte sie noch nie zuvor gesehen, weshalb er mit einem angedeuteten Kopfschütteln antwortete.
Benjamins Lächeln entbehrte jeder Überheblichkeit: »Kein Wunder. Sie waren sechshundert Jahre verschollen. Es sind die neun Ziffern der Inder.«
»Und wozu sind sie gut?«, fragte Isenhart.
»Laut Ibn Khamud haben die Inder sie bereits vor sechs Jahrhunderten ersonnen, um das Rechnen zu erleichtern.«
»Das können wir mit den römischen Ziffern auch«, hielt Isenhart ihm entgegen. Nur zu gut erinnerte er sich daran, wie Meige Schütterkuss in Luceria geschwind die Pfennigstücke auf dem Liniennetz verschoben hatte, das Fünfer-, Zehner-, dann Fünfziger- und Hunderterschritte trennte und immer so weiter, bis sie schließlich den Gegenwert des Silbers herausgefunden hatte.
»Ja«, gab Benjamin ihm recht, »aber die römischen Ziffern werden immer in ein anderes System übersetzt, damit man mit ihnen rechnen kann. Deswegen wurde der Abakus erfunden. Aber diese neun Ziffern der Inder benötigen keine Verschiebung mehr. Sie werden um die Null ergänzt, damit ist man auf kein weiteres Symbol mehr angewiesen. Großartig. Hinfort, ihr Abakusse«, lachte er, »hinweg mit all den Hilfskonstruktionen!«
Isenhart begann in Ansätzen zu begreifen, inwieweit die Einführung dieser neuartigen Symbole ihr Wissen der Mathematik, vielleicht auch der Mechanik und Physik revolutionieren könnte. Ohne ein Zwischenmodell wie das Rechnen auf Linien, das Meige Schütterkuss anwandte, oder den Abakus – Walther besaß selbstredend einen – wäre es möglich, mathematische Operationen zügiger im Kopf durchzuführen. Oder mit einem Finger im Sand oder einem Federkiel auf Pergament.
»Wie kommt es, dass etwas von den Indern ausgerechnet sechshundert
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