Isenhart
Jahre später in Toledo ankommt?«, fragte er Benjamin.
Der antwortete mit einem Achselzucken. »Das sind wohl die unergründlichen Wege Allahs, Jahwes, Gottes und Buddhas«, vermutete er.
»Wer ist Buddha?«
»Der Gott der Inder«, sagte Benjamin, der sich wieder auf die Symbole vor sich auf dem Pergament konzentrierte, »Al-Chwarizmi, einer der Besten der Besten, hat die neun Zahlen der Inder vor fünfhundert Jahren bei den Arabern eingeführt. Seitdem verwenden die Mauren diese Art zu rechnen, es nennt sich Dezimalsystem. Und mir scheint, es könnte auch für das Abendland ein Zugewinn sein.«
Isenhart trat näher, um erneut ein Auge auf die merkwürdigen Symbole zu werfen. »Die Basis ist zehn«, stellte er fest.
»Ja«, stimmte Benjamin ihm zu, »warum auch immer.«
Isenhart sah an sich hinab, zu seinen Händen, den Fingern. »Vielleicht, weil wir zehn Finger haben und jeder Kaufmann weit und breit sie beim Rechnen einsetzt.«
Benjamin musste lachen, fing sich aber sofort wieder: »Ja«, sagte er, »ja. Manchmal sind die naheliegenden Antworten die zutreffendsten. Meist sogar. Wollen wir ein wenig rechnen mit den neun Ziffern der Inder?«
Isenhart hatte nichts dagegen. Benjamin nahm im Schneidersitz Platz, Isenhart neben ihm.
»Also«, begann Benjamin, »wenn ich zwei Datteln habe und sie verdopple, welches Symbol …«
»Das da«, sagte Isenhart und deutete auf die entsprechende Ziffer auf dem Pergament.
»Das ist die Vier«, erklärte Benjamin, »und wenn ich nun …«
»Verzeiht meine mangelnde Geduld«, unterbrach Isenhart, »aber was haltet Ihr davon, wenn wir die neun Ziffern der Inder auf Katheten und Hypotenusen anwenden?«
Benjamin führte keinen Einwand ins Feld.
Obwohl Konrad von Laurin den Tag an Babas Seite verbracht, eine Menge über Brieftauben gelernt und sich – Ungläubiger hin, Ungläubiger her – in der Gesellschaft des Hüters der Puente wohlgefühlt hatte, wusste Isenhart um die wenige Zeit, die ihnen hier noch blieb. Sie hatten das Ziel ihrer Reise erreicht, Konrad war inzwischen sicher Vater geworden, und so war es nur natürlich, dass er alsbald auf die Rückkehr drängen würde.
Kurz überlegte Isenhart, ob das hier eine Zäsur war, der Beginn eines neuen Lebens in Toledo, verwarf diese Möglichkeit aber, kaum dass er sie erwogen hatte, denn es hätte bedeutet, den Freund die Rückreise alleine antreten zu lassen. Und viel entscheidender: Es wäre ein Leben ohne Konrad, Henning und Sophia.
Konrad von Laurin musste nicht lange überlegen, ein Blick in Isenharts Gesicht genügte, um zu wissen, dass der Freund hier in der Puente die beste Zeit seines Lebens verbrachte. Natürlich trieb es ihn zurück in Maries Arme, zurück zu seinem Sohn, wenn es, so Gott es gewollt hatte, denn einer geworden war, notfalls auch zurück zu seiner Tochter, zurück zu Sophia, der einen Schwester, die ihm geblieben war. Auf der anderen Seite hatte der Kreuzzug Barbarossas eine Saite in ihm zum Schwingen gebracht, die ihm als jene christliche Nächstenliebe erschien, von der Hieronymus immer gepredigt hatte. Die Fähigkeit und den Willen, die eigenen Bedürfnisse hintanzustellen.
Zweihundert Tage hatte er seine Nase nicht mehr zwischen Maries Brüsten vergraben und war mit den Raben nicht mehr auf derJagd gewesen – da kam es auf ein paar Tage mehr oder weniger auch nicht an.
»Von mir aus können wir noch sieben Tage bleiben, bevor wir uns auf den Weg zurück machen«, sagte er daher.
Das war weit mehr, als Isenhart erhofft hatte, weshalb er schnell nickte: »Einverstanden.«
Nachdem Konrad in einen traumlosen Schlaf gefallen war, nahm Isenhart sich, befeuert durch die zwei Stunden Rechnerei mit den neun Ziffern der Inder zusammen mit Benjamin, dem Juden, noch einmal des chiffrierten Schreibens seines Vaters an. Draußen zirpten die Grillen, die Geckos eroberten die Wände und Decken, eine sternklare Nacht zog auf.
Durch die offene Doppeltür erblickte er Baba, der auf einem kleinen Teppich kniete und gen Mekka betete, wo Mohammed vor knapp sechshundert Jahren eine neue Religion verkündet hatte.
Konrad regte sich im Schlaf, und soweit Isenhart das beurteilen konnte, verschaffte der junge Laurin sich unter der Decke Erleichterung, bevor er ein wohliges Grunzen von sich gab.
Isenhart musste grinsen, ihre Blicke begegneten sich. »Du hast nur tausend Mal«, wisperte er.
Konrads müdes Schmunzeln wuchs sich zu einem breiten Grinsen aus. »Ich verrat dir was«, flüsterte er
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