Isenhart
einen Toten an ihnen vorbeitrugen.
»Was ist passiert?«, fragte Konrad von Laurin.
»Er ist gestorben«, antwortete der Poitevin.
Benjamin deutete mit einer sanften Kopfbewegung hinter sie. Isenhart und Konrad folgten seinem Blick, um eine Ansammlung verschiedener Tücher vor einem Gebäude zu entdecken, die sich im sanften Wind wiegten. Auf dem Boden befanden sich mehrere Lager, auf denen Menschen ruhten.
»Es sind Kranke«, erklärte Benjamin, »solche, deren Leiden nicht gelindert werden können. Die meisten sind schon halb tot, wenn sie in die Puente kommen. Die Medici hier sind ihre letzte Hoffnung. Und sie sind bereit, neue Methoden, Heilkräuter und Salben an sich erproben zu lassen.«
Isenhart begriff sofort das symbiotische Wesen dieser Zusammenkunft. Die Gelehrten erweiterten ihren Horizont, und die Kranken hatten nichts mehr zu verlieren, möglicherweise aber alles zu gewinnen.
Benjamin und der Poitevin hoben den Leichnam wieder an und trugen ihn davon. Isenhart näherte sich den Lagern, die durch die Tücher vor neugierigen Blicken und auch vor der Sonne geschützt wurden. Wenn überhaupt, erhaschte der Betrachter nur einen kurzen Eindruck von dem Kranken, einem Angehörigen oder dem Medicus, dann verwehrte wehendes Leinen wieder die Sicht. Auf diese Weise ergaben viele visuelle Mosaiksteinchen langsam ein Gesamtbild.
Von hier und dort trug der laue Sommerwind ein Stöhnen herüber oder das Schnaufen eines weinenden Menschen. Konrad war Isenhart gefolgt. Für die beiden war so ein Anblick neu. Man schaffte Kranke nicht an einen gemeinsamen Ort, man behandelte sie zu Hause, betete für sie und sicherte sich den Trost eines Geistlichen. Simplen Erkältungen, Lungenentzündungen oder eiternden Wunden und Geschwüren rückte man am besten zu Leibe, indem man Zeit verstreichen ließ oder einen Aderlass vornahm.
Spitäler zur Pflege und Behandlung der Kranken verbreiteten sich erst langsam durch christliche Orden wie die der Templer, die Pilgern auf dem Weg ins Heilige Land Schutz und Zuflucht bieten wollten, während das Hospital in Bagdad bereits für über 8000 Patienten Platz bot, wie Isenhart auf dem Basar in Erfahrung gebracht hatte.
Isenhart nahm nur aus den Augenwinkeln wahr, wie Konrad zur Salzsäule erstarrte. So wie beim Anblick der Mauren am Ufer des Tajo. Aber dieses Mal konnte Isenhart den Grund für Konrads Verhalten nicht entdecken. »Was ist?«
»Nichts.« Konrad schüttelte kräftig den Kopf, als wolle er einen Albdruck verscheuchen.
Sie traten näher an die Lager heran. Isenhart, dem Konrad nichts vormachen konnte, behielt seinen Freund im Auge. Tatsächlich galt dessen Blick einer männlichen Gestalt, die über ein Kind gebeugt war, ein kleines Mädchen, das die Pocken hatte. Neben ihr kniete ihre ältere Schwester oder Mutter oder beides und betete. Der Mann hatte sein Gesicht nahe an das des Kindes gehalten, aber dann hob er den Kopf und schloss dem Mädchen die Lider. Die Frau begann zu wimmern.
Isenhart nahm an der Gestalt mit den silbernen Haaren die Unterschenkelpanzer wahr. Ein Ritter? Der Mann stand auf und wandte sich um. Für einen kurzen Augenblick versagte ihnen ein schwarzes Tuch den Blick auf das Gesicht. Aber dann wusste Isenhart, warum Konrad soeben erstarrt war: Vor ihnen stand Wilbrand von Mulenbrunnen. Und der hatte seiner überraschten Miene nach zu urteilen ebenso wenig mit ihnen gerechnet wie sie mit ihm.
Konrad war der Meinung, nun lange genug Stachel im Fleisch des Abtes gewesen zu sein, also schritt er auf ihn zu und ohrfeigte ihn.
Sofort erhoben sich vier Männer von ihrem Würfelspiel, dem sie im Schatten der Festungsmauer nachgegangen waren, und gingen auf sie zu, zweifellos von Mulenbrunnens Begleiter.
»Von dieser Schande könnt Ihr Euch morgen früh bei Sonnenaufgang reinwaschen, wenn Ihr dazu Manns genug seid«, sagte Konrad, dessen Halsschlagader angeschwollen war.
»Soll ich ihn Demut lehren, Herr?«, fragte der erste der Männer, der Konrad um halbe Kopfeslänge überragte.
Wilbrand hatte nur für den Bruchteil eines Augenblicks seine Fassung verloren. Im Nu hatte er wieder ein souveränes Lächeln aufgesetzt und deutete ein Kopfschütteln an. Kurz wandte er die Augen von dem jungen Laurin ab und richtete sie auf Isenhart. In seinem Blick lagen ehrliches Interesse und sogar eine Spur Respekt, wie Isenhart irritiert feststellte.
»Morgen bei Sonnenaufgang«, bestätigte der Abt und sah Konrad wieder an, »aber bedenkt, dass Euer Vater, den
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