Isenhart
Herrgott zu leben«, erklärte die Nonne, was Sophia nicht als besonders erhellend empfand. Zumal ihr mit jedem Schritt auf eines der Inklusoria das Herz kleiner wurde.
Schließlich erreichten sie eine der gemauerten Auswölbungen, die über eine kleine Öffnung verfügte, zugehängt mit grauem Leinen. Ein Holznapf stand direkt vor der Öffnung auf einem steinernen Sims, Kotgeruch ging von ihm aus. Die Nonne, die Sophia hierhergeführt hatte, nahm das Behältnis, das für die Notdurft vorgesehen war, beiseite. Mit geübter Hand entleerte sie die Exkremente durch eine kurios schnelle Streckung ihres Handgelenks – exakt jene Bewegung, aus der Vater Hieronymus und auch Walther von Ascisberg die Wucht der Rohrstockhiebe bezogen, mit denen sich Lehrstoff nachhaltiger einzuprägen schickte.
Die Nonne klopfte mit dem Holzgefäß gegen die Mauer, bevor sie das Behältnis wieder vor die Öffnung stellte, Sophia mit der rechten Hand – der guten – über das Haar fuhr und sie alleine ließ. Der Vorhang wurde zur Seite geschoben, eine dürre Hand nahm den Topf hinein.
»Ennlin«, flüsterte Sophia.
Die dürre Hand verharrte für einen Moment. Dann erschien das zerfressene Antlitz Ennlins in der kleinen Öffnung. Das, was einmal der Mund gewesen war, dehnte sich zu einem Lächeln. Und obwohl das Gesicht für den Betrachter einen monströsen Schock bedeutete, sah Sophia darin, vor allem in den Augen, ihre Freundin Ennlin.
»Sophia.«
Ennlins Stimme war voller Sanftmut und Liebe, beides rief auf Sophia von Laurins Gesicht ein Lächeln hervor, das allerdings sogleich von Sorge überschattet wurde. »Was ist passiert? Was hat man mit dir gemacht?«
»Ich habe dieses Leben für mich gewählt, Sophia. Es ist nichts, was ich nicht gewollt hätte. Tritt näher. Tritt näher und sieh selbst.«
Sie selbst nahm ein wenig Abstand von der Öffnung, die als Durchreiche für Notdurft, Speise und Trank diente und für jene Erzeugnisse, die Ennlin hier in der Gesellschaft mit sich selbst herstellte. Sophia gab sich einen Ruck und warf einen Blick durch die Öffnung in das, was man als Klause bezeichnete. Ein Quadrat von zwölf auf zwölf Fuß. Eine Matte am Boden. Ein paar Kräuter. Eine zweite Öffnung. Ansonsten kein Tageslicht, lediglich ein Andachtsbild Jesu Christi. Ein Riemen mit blutigen Nägeln lag neben der Ruhestatt, die aus einer Matte aus Stroh und einer Decke bestand. Sophia entdeckte keine Tür.
Erst, als sie einen Schritt zurücktrat, fiel ihr der Unterschied in der Färbung der Mauersteine direkt vor ihr auf. Dort, wo sich die Öffnung befand, hatte es zuvor einen mannshohen Durchlass gegeben.
Ennlin von Grundauf hatte sich für das Leben einer Inklusin entschieden und sich daher für den Rest ihres irdischen Daseins Lebens einmauern lassen, um ungestört von weltlichen Einflüssen ihren Alltag mit Beten, Lesen, Kasteiung und Fasten zu verbringen, um dem Herrn Jesus Christus zu gefallen und sich der Aufnahme ins Paradies zu versichern.
Denn näher als die Inklusen konnte man dem Schöpfer nicht sein. Sie kreuzigten ihre Leidenschaften und Begierden, sie töteten den Körper ab und sie peinigten sich in einem fort. Selbstverständlich wäre das Heizen der Klausen ein sündhafter Luxus gewesen, weswegen Ennlin erst das linke Bein, zwei Winter später der rechte Arm zunächst erfrieren und dann verkrüppeln sollten.
Das wussten die Schwestern Laurin noch nicht, die in der Ruine Schutz vor dem Unwetter gesucht hatten und nicht ahnten, dass der junge Schmied sie belauschte.
Sophias Entsetzen, das sie nach dem Besuch der Freundin den ganzen Heimweg über begleitet hatte, traf Anna mit dem Schmerz, den ein unerwarteter Schlag in sich trägt. Ennlin und eine Inklusin! Ein größerer Gegensatz war für Anna gar nicht vorstellbar. »Hat sie den Verstand verloren?«, fragte sie bestürzt.
Sophia schüttelte den Kopf: »Es ist wegen Prior Thiemo, glaube ich. Weil er sie … zu gerne hat.«
»Ach so.« Anna nickte unwillkürlich. So ergab Ennlins Entscheidung wenigstens einen Sinn, nachdem ihr Vater ihren Nöten kein Gehör geschenkt hatte. Das Inklusorium mochte dem Außenstehenden als ein Verlies erschienen, für Ennlin von Grundauf war es ein Refugium. Die Mauern schützten sie vor den Übergriffen des Priors.
Sophia beendete die Schilderung der Einzelheiten ihres Besuches mit den Worten: »Ich will niemals so werden wie Ennlin. Ich will niemals eine Nonne sein.«
»Ich auch nicht«, platzte es aus Anna heraus,
Weitere Kostenlose Bücher