Isenhart
auf.«
Mutter Adina wandte ihnen nacheinander einen prüfenden Blick zu. Cloes Gesicht strahlte von innen, jedes Wort verschlang sie so begierig, dass Sophia sich unwillkürlich fragte, weshalb es sie erst im Alter von sechzehn Jahren hierher verschlagen hatte.
»Das gilt natürlich auch für Nonnen«, fügte Adina hinzu.
»Und wann können wir tun, wonach uns der Sinn steht?«, fragte Esther mit weinerlicher Stimme.
»Gar nicht«, antwortete Adina ihr, nahm dabei aber Sophia ins Visier, »ein Gehorsam dieser Art ist nur dann Gott angenehm und für die Menschen beglückend, wenn der Befehl nicht zaghaft, nichtsaumselig, nicht lustlos oder gar mit Murren und Widerrede ausgeführt wird. Kapitel 5, Regel 14.«
Sophia trafen all diese Regeln nicht. Sie wusste, was sie erwartete. Und sie war bereit, den Schwur aufzulösen, den sie ihrer Schwester gegenüber geleistet hatte, sie war bereit, sich allen Widrigkeiten zu beugen, jeder Maßnahme Benedikts von Nursia, die dazu angetan war, ihren Willen zu brechen. Denn trotz dieses Regelwerks, das von fast allem Besitz ergriff, gab es doch ein letztes Refugium, in das sie sich flüchten konnte: in die Freiheit ihrer Gedanken.
Diese Möglichkeit steigerte Sophias Leidensfähigkeit, an der Benedikts Regeln sich brachen wie das Meer an einer Steilküste, die sich erhaben und würdevoll über das Element neigte, das sie zu Fall zu bringen gedachte. Außerdem war sie dem Willen anderer nicht ohne eine Gegengabe ausgesetzt. Zum Ausgleich für die Leiden, die man ihr auferlegte, würde Oberin Adina sie in den sieben freien Künsten unterweisen, den septem artes liberales.
Am Abend des folgenden Tages fielen sie völlig ermattet auf ihre Lager, die sich in einem rechtwinkligen Dreieck zueinander befanden, wie Sophia feststellte. Die Müdigkeit hing bleiern in ihren Gliedern, aber die Konstellation ihrer Lager rief die Erinnerung an Isenhart wach. Er wandte das gleichwinklige Dreieck zur Bestimmung der Gestirne an. Wie war ihm das nur gegeben? Sophia konnte kaum abwarten, bis auch sie endlich in die Gesetzmäßigkeiten der Sternenbewegung eingeweiht werden würde.
»Soll das ewig so weitergehen?«, wisperte Esther mit brüchiger Stimme. Sie war kurz davor zu weinen.
»Denn reden und lehren kommen dem Meister zu, schweigen und hören dem Jünger«, beschied Cloe sie.
»Halt die Klappe«, zischte Esther ihr zu, eine Redewendung, die ihrem neuen Alltag entstammte: Wenn sie sich in der Kirche von ihren Plätzen erhoben, mussten sie die hölzernen Sitzflächen festhalten, die ansonsten unter lautem Geklapper nach oben geschwungen und gegen die Wand gescheppert wären. Gerade den Novizen unterlief dieser Fehler anfangs noch häufig und zog die mahnenden Blicke der Älteren auf sich.
»Dir ist nicht erlaubt zu murren«, erinnerte Cloe sie.
»Und dir ist nicht erlaubt, dazwischenzuquatschen«, erwiderte Esther aufgebracht, »geh doch raus und kastei dich ein bisschen.«
»So findet er, selbst wenn er den Befehl ausführt, doch keinen Gefallen bei Gott, der das Murren seines Herzens wahrnimmt«, rezitierte Cloe unverdrossen, »Kapitel 5, Regel 18.«
Esther verdrehte die Augen, sah aber von einer Entgegnung ab und warf Sophia einen Blick zu. Dieser lag Cloe nicht besonders. In ihrem Bestreben, es Oberin Adina recht zu machen, legte sie eine abstoßende Streberhaftigkeit an den Tag. Binnen eines Tages schien Cloe die Vorschriften, die vor beinahe siebenhundert Jahren von Benedikt nach der Gründung des Klosters Montecassino verfasst worden waren, auswendig gelernt zu haben.
»Und vermutlich gegen ihren Verstand eingetauscht«, wie Sophia im Flüsterton mutmaßte, die einzige Wertung, die ihr bisher über die Lippen gekommen war. Esther prustete los, was ihr Cloes erneute Aufmerksamkeit einbrachte, ein zweifelhafter Zugewinn.
»Albernheiten aber, müßiges und zum Gelächter reizendes Geschwätz verbannen und verbieten wir für immer und überall. Wir gestatten nicht, dass der Jünger zu solchem Gerede den Mund öffne – Kapitel 6, Regel 8.«
Für Sophia war relativ deutlich vorhersehbar, welch unterschiedliche Wege Esther und Cloe innerhalb der Klostermauern einschlagen würden. Ihrer Gabe bedurfte es dazu nicht.
»Muss ich hier bleiben? Für immer?«, fragte Esther, und schon begann ihre Stimme wieder zu zittern.
»Nein. Du kannst gehen«, antwortete Sophia, die sich mit diesem Punkt sehr genau auseinandergesetzt hatte, bevor sie den Entschluss gefasst hatte, ihre Freiheit
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