Isenhart
gegen Bildung zu tauschen, »aber nach einem Jahr musst du dich entscheiden, ob du die Ordensgelübde ablegen willst.«
»Also kann ich auch jetzt schon gehen?«
»Aber natürlich.«
Esther blinzelte verblüfft. »Meine Brüder haben gesagt, dass ich für immer Psalmen singen muss und keinen Mann kriege.«
»Das ist doch besser, als zu Hause zu leben«, mischte Cloe sich ein, die für ihren Beitrag ausnahmsweise nichts in Benedikts Regularium fand, was dieser Situation angemessen gewesen wäre, »dahättest du keine Psalmen singen dürfen – und einen Mann hättest du auch nicht bekommen.«
Ein kleines, boshaftes Lächeln huschte über Cloes Gesicht. Esther war viel zu verblüfft, um mit einer Erwiderung zu kontern.
»Das ist der Unterschied«, legte Cloe nach, »ich bin hierhergekommen, weil ich keinen zum Manne will.«
»Hat es dir der weibliche Liebreiz angetan?«, fragte Sophia. Cloe verschluckte sich um ein Haar, ihre Wangen wurden von einem feinen Rot überzogen.
Esther schaute zwischen den beiden hin und her, als fragte sie sich, ob in dieser Bemerkung ein Körnchen Wahrheit steckte.
»Das dürfte auch Mutter Adina interessieren«, legte Sophia nach.
»Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten«, richtete Cloe das Wort an Sophia, die zweifellos die größere Bedrohung für sie darstellte.
»Du sollst alle Menschen ehren. Kapitel 4, Regel 8 des heiligen Benedikt«, gab Sophia unbeeindruckt zurück, »und keinem anderen antun, was du selbst nicht erleiden möchtest. Regel 9. Überheblichkeit fliehen, Regel 69. Du sollst deinen Mund vor bösem und verkehrtem Reden hüten und du sollst keine Arglist im Herzen tragen, Kapitel 4, Regel 51 und 24.«
Esther wandte ihren verwunderten Blick Sophia zu. Auch Cloe starrte die älteste der Novizinnen perplex an. Sie konnte nicht fassen, dass jemand beim Auswendiglernen des Regulariums mit ihr gleichgezogen hatte. Mehr noch: es anzuwenden und sie mit den eigenen Waffen zu schlagen wusste.
Sophia wartete, bis Cloe die Augen niederschlug, bevor sie sich erneut an Esther wandte: »Du kannst gehen, niemand hält dich auf. Aber zu Hause wird dich niemand aufnehmen. Wenn sie gewollt hätten, dass du nicht gehst, hätten sie dich zurückgehalten, nicht wahr?«
Darüber geriet Esther ins Grübeln und fiel schließlich in einen tiefen Schlaf.
Oberin Adina lehrte sie die sieben freien Künste, erst den Dreiweg, das Trivium, das aus Grammatik, Rhetorik und Dialektik bestand,dann das Quadrivium, den Vierweg, der Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie umfasste.
Es handelte sich um jene Künste, die sich erst ein Mann leisten konnte, der sich keine Gedanken mehr um sein täglich Brot zu machen brauchte, weswegen man sie als »frei« klassifiziert hatte.
Esther verfügte lediglich über eine natürliche Ader zur Musik, wie Adina feststellte. Mit etwas Übung würde sie dem Chor Ehre machen. Mutter Adina war trotz ihrer Position eine pragmatisch denkende Frau geblieben. Wer dem Chor den Ton weisen konnte, musste nicht wissen, welche geometrische Figur entstand, wenn man ein Dreieck aus der Fläche in den Raum erhob, es also um seine Längsachse in Rotation versetzte.
Der Schöpfer hatte Vielfalt walten lassen, weswegen sie einander nicht glichen wie ein Ei dem anderen, sondern mit unterschiedlichen Fertigkeiten ausgestattet waren, die ihnen verschiedene Errungenschaften ermöglichten. Der Herr liebte die Vielfalt. Also folgte Schwester Adina dem göttlichen Pfad, in dem sie das förderte, was sie vorfand, und nicht das zu erzwingen versuchte, was ohnehin nicht gegeben war.
Wenn die drei Novizinnen Melodien gewesen wären, war Esther einfach, aber lieblich. Cloes musische Gestalt klang stets ein wenig zu schrill, zu bemüht und vor allem ohne eigene Substanz, ja, artifiziell. Aber nahezu perfekt.
Sie war das zu leisten imstande, was die Mehrheit der Mönche und Nonnen zu leisten vermochte. Cloe lernte mit großem Eifer alles auswendig, sie stopfte Gebote, Psalmen, Bibelstellen in ihren Kopf und war in der Lage, all das jederzeit zu rezitieren. Doch unfähig, es anzuwenden. Und so blieb ihre Melodie letzten Endes monoton. Sie eignete sich dazu, Novizinnen in den Regeln des heiligen Benedikt zu unterweisen oder aber Bücher zu kopieren. Buchstaben für Buchstaben abzumalen. Ohne Verständnis ihrer Bedeutung, aber akkurat in der Duplizierung ihrer Gestalten.
Blieb noch Sophia, an der sich bereits am ersten Tag ihr Blick verfangen hatte, draußen im
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