Isenhart
O?
Der Eintritt ins Refektorium riss Isenhart aus seinen Überlegungen, deren Nachwehen ihn mit der schmerzhaften Gewissheit zurückließen, diese Gedanken niemals mit jemandem teilen zu können. Zu dürfen. Mit Ausnahme vielleicht von Walther von Ascisberg und von Konrad, der aber kein rechtes Interesse hatte, Dingen auf den Grund zu gehen.
Wilbrand von Mulenbrunnen erwartete sie in sitzender Haltung, den rechten Ellenbogen auf den Oberschenkel gestützt, den Kopf in die offene rechte Hand gebeugt. Er wurde von zwei Landsknechten flankiert. Enge Beinkleider, ledernder Wams, Lanze. Sie nahmen die Besucher mit stoischer Sachlichkeit zur Kenntnis. Ihre Blicke wanderten, so wollte es ihre Profession, zur Bewaffnung der Fremden.
Das Refektorium war ein großer Saal, der größte Raum, den Isenhart bis dato gesehen hatte. Er wurde gestützt durch Säulen, die in einer Linie auf der Längsachse des Raumes angeordnet waren. Isenhart wusste nichts von Statik, aber mithilfe seiner mathematischen Grundkenntnisse kam er zu dem Schluss, dass das Refektorium ohne die Säulen in sich zusammengebrochen wäre.
Ansonsten standen dort Tische aus unbehandeltem Holz nebst den Bänken, auf denen die Mönche üblicherweise saßen, um ihr Mahl einzunehmen. Dazu hatten sie nur einmal am Tag Gelegenheit.
Der erste Eindruck von Wilbrand von Mulenbrunnen war auch der bleibendste. Der Abt federte aus seiner sitzenden Haltung hoch. Seine Schläfen hatten ein mattes Grau angenommen, und doch entsprach diese flüssige Bewegung des Aufstehens eher einem Mann Mitte zwanzig. Und so war auch seine ganze Haltung, von lässiger Gespanntheit.
Wilbrand trug die Insignien seines Amtes, die Mitra auf dem Haupt, das Brustkreuz auf seinem Gewand, den Ring und schließlich den Hirtenstab mit seinem nahezu zum Kreis gewölbten Griff. Er lächelte. »Sigimund, welch Freude«, sagte er, »hattet Ihr eine gute Reise?«
Was nach einem Treffen unter Freunden klang, war nichts weiter als der Versuch, die Form zu wahren. Isenhart hätte dieses Gefühl nie in Worte kleiden können, aber er spürte die Diskrepanz aus Zunge und Absicht.
»Ausgezeichnet«, erwiderte Sigimund mit einem Lächeln, das einstudiert wirkte.
Isenhart erfasste den Zustand seines Herrn mit einem Blick. Sigimund strahlte eine Ruhe aus, zu der er sich zwingen musste.
Wilbrand kam näher, seine Augen musterten erst Konrad, dann ihn. All das eine Sache von Augenblicken. Er kam vor Sigimund von Laurin zum Stehen. »Die Kunde von Eurem Verlust hat mich erreicht«, sagte der Abt, »wir haben für Anna gebetet.«
Sigimund nickte – und wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als sein Sohn ihn unterbrach. »So zügig?«
Wilbrand wandte sich ihm zu und antwortete fast in entschuldigendem Tonfall: »Meine Männer haben ihre Augen und Ohrenüberall, manchmal mehr, als einem lieb ist, aber sie können nicht wider ihre Natur.«
»Ich danke Euch, Wilbrand«, sagte Sigimund von Laurin. »Eure Gebete mögen den Herrn milde stimmen.«
Auch Wilbrand deutete ein Nicken an, ließ Sigimund dabei aber nicht aus den Augen. »Das ist die Hoffnung«, bestätigte er, »aber deshalb habt Ihr die beschwerliche Tagesreise nicht auf Euch genommen, nehme ich an.«
»Nein«, erwiderte Sigimund, stets die Landsknechte im Blick, »wir haben Alexander von Westheim gefasst. Er trug etwas bei sich, was meiner Tochter gehörte. Mein Schmied hatte es ihr zuvor zum Geschenk gemacht.« Mit dem Kopf deutete er auf Isenhart, der regungslos im Refektorium stand und Wilbrand von Mulenbrunnen musterte, ja beinahe studierte.
Wieder begaben die Pupillen des Abtes sich auf kurze Wanderschaft, schweiften an Konrad vorbei und blieben auf ihm, Isenhart, hängen. »Bist du der, den man ›Isenhart‹ nennt?«
Isenhart entdeckte in Wilbrands Augen dieselbe Neugier, die ihm Giselbert damals entgegengebracht hatte.
»Ja, Herr.«
Der Abt trat näher an ihn heran. Die Augen des Geistlichen verloren etwas von ihrem wachen Glanz, der Blick wurde weich, es war, als löse Isenharts Anblick eine ferne Erinnerung in dem Mann aus. Aber dann war der Augenblick auch schon wieder vorbei, hatte sich der Zeit überantwortet, und Isenhart konnte schwerlich sagen, ob er überhaupt stattgefunden hatte.
»Habt Ihr ihn hinrichten lassen?«, fragte der Abt Sigimund von Laurin.
Der Angesprochene schüttelte leicht den Kopf. »Ich weiß nicht, ob er schuldig ist.«
Wilbrand von Mulenbrunnen nickte voller Verständnis. »Übergebt ihn mir, Sigimund,
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