Isenhart
waschen.«
»Das meinte ich nicht«, stellte Walther von Ascisberg ernüchtert fest.
Isenhart hatte diese Ernüchterung zu deuten gelernt. Sie trat immer dann zutage, wenn Isenharts gedankliche Leistungen weit hinter der Erwartung seines Lehrmeisters zurückblieben. Er rief sich die geschilderte Situation ins Gedächtnis, bis die Antwort plötzlich klar vor ihm lag, ganz so, als hätte jemand die hölzernen Fensterläden aufgestoßen und ihm den Blick in die Sonne ermöglicht.
»Es ist eine Sache der Perspektive«, antwortete er, und Zunge und Mund konnten der Geschwindigkeit seiner Gedanken nur schwerlich folgen, weswegen er sich beim Sprechen verhaspelte, »eine andere Perspektive wandelt die Form dessen, was man betrachtet.«
»Und den Inhalt«, hatte Walther zufrieden hinzugefügt.
Und den Inhalt.
Von der Seite betrachtet mochte ein Haus als Kubus erscheinen, weil es einem die Stirnseite darbot, ein kleiner Schritt reichte aber, um das Gebäude als Quader mit ungleichen Kantenlängen wahrzunehmen. Wenn er also den Mord an Anna nicht zu verstehen in der Lage war, lag es möglicherweise an der Perspektive.
Isenhart hatte dieses Verbrechen bisher nur aus seinen eigenen Augen gesehen, aus der Sicht des Betroffenen. Der Perspektive des Opfers. Und die ließ ihn mit unbeantworteten Fragen zurück. Dievernünftige Schlussfolgerung daraus, die Logik, gebot ihm, was zu tun war: die Perspektive zu ändern.
Wenn er die Sicht des Mörders einnahm, musste er sich in ihn hineindenken, hineinversetzen. Er musste hineinschlüpfen in seine Schuhe, in seine Finger, in seine Haut, die die Kälte der Nacht wahrnahm, in seine Ohren, die das Knirschen des Schnees bei jedem Schritt auffingen, in seine Augen, die Annas Gestalt über die vom Vollmond beschienene Lichtung stapfen sah. Eins sein mit seinen Sinnen, seinem Kopf. Schmecken, wie er schmeckt. Greifen, wie er greift. Denken, wie er denkt.
Doch dafür musste er mehr von dem Mann wissen, von seinen Trieben und Begierden.
»Was wird nun geschehen mit Alexander von Westheim?«, fragte Konrad und holte Isenharts Gedanken ins Hier und Jetzt zurück.
Konrads Vater schien diese Frage auch umzutreiben, denn seine Antwort kam prompt: »Ich weiß es nicht.«
»Dann fordere ich ein Gottesurteil«, sagte Konrad bestimmt.
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10.
chwöre ab der Hure Babylon, der Mutter aller Sünden.«
Mit diesen Worten eröffnete Vater Hieronymus das iudicium dei, das als Kreuzordal zu einer Entscheidung führen sollte.
Zu diesem Zweck hatten sich Sigimund, Konrad und Hieronymus in der Kapelle eingefunden. Rupert stand neben dem knienden Händler, der immer noch mit Fuß- und Handeisen versehen war. Isenhart selbst wartete an der Schwelle zu dem Nebenraum, wo er das Privileg der Bildung erfahren hatte.
»Ich schwöre«, wisperte Alexander von Westheim mit rasselndem Atem. Die Nacht im Verlies hatte ihm hörbar zugesetzt.
»Löst die Handeisen«, sagte Hieronymus. Rupert warf einen Blick zu Sigimund von Laurin, der ein Nicken andeutete.
Hieronymus wandte sich um, während der Bogner dem Juden die Fesseln löste, und ergriff mit sanfter Geste den Splitter vom Kreuz Christi, den Konrad vom Kreuzzug sicher wieder heimgebracht hatte. Oder der Konrad vom Kreuzzug unversehrt wieder heimgebracht hatte – wie auch immer.
»Schwöre ab den Dämonen in dir, die dir den Pfad zu Tugend und Wahrhaftigkeit verstellen.«
»Ich schwöre ihnen ab.«
Hieronymus nickte zufrieden. Es war das erste Gottesurteil, das er persönlich in die Wege leitete. Aber als junger Mönch hatte er zwei Ordalen beigewohnt. In beiden Fällen wurde die Schuld des Angeklagten bewiesen, der eine ertrank, der andere verbrannte sich so schwer, dass er seinen Verletzungen erlag.
Gerne hätte er auch Alexander von Westheim der Eindeutigkeit eines Feuerlaufs oder der Wasserprobe unterzogen, aber Sigimund von Laurin hatte das vergleichsweise milde Kreuzordal angeordnet.
»Schwöre ab dem Endchristen.«
»Ich schwöre.«
»Leg deine rechte Hand auf diesen Span und schwöre bei Gott, dem Allmächtigen, dass du frei bist von jeder Schuld.«
Alexander von Westheim zögerte. Der Geistliche zog eine Augenbraue hoch. Der Händler legte die Hand auf das spitz zulaufende Stückchen Holz, das Hieronymus ihm entgegenhielt, und sagte: »Ich schwöre, ich bin frei von Schuld, Vater.«
Das Zögern hatte seinen Ursprung nicht in der Frage von Schuld oder Unschuld, sondern in der Herkunft des Spans. Vielleicht, so überlegte Alexander
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