Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter
Natürlich nannten sie mich Streberin und spotteten darüber, dass ich mich bei den Dozenten einschleimte, doch das war mir egal. Wahrscheinlich hatte ich es nur dem Wohlwollen der Lehrer zu verdanken, dass mich die anderen Acari nicht im Schlaf mit einem Kissen erstickten.
Mir stand praktisch grenzenloses Wissen zur Verfügung. Sucher Judge gab mir einen Schlüssel zur Phänomenologie-Bibliothek, und ich las dort, was immer und wann immer ich wollte.
Meine morbide Faszination für Master Alcántara steigerte sich immer mehr. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich ihn total anziehend oder total Furcht einflößend fand, aber eine Diskussion über Karten-Koordinaten mit einem Mann, der Descartes, den Erfinder der x- und y-Achse, persönlich gekannt hatte, war einfach cool. Er hielt nur ab und zu eine Gastvorlesung und erinnerte mich jedes Mal daran, warum ich den Semesterpreis so heiß begehrte.
Und er würde mir gehören. Ich arbeitete so hart daran, ihn zu erringen. Ich musste ihn erringen. Er würde mich von dieser Insel wegbringen.
Selbst der Kampfsport hatte eine neue Bedeutung gewonnen. Auf dem Weg in die Turnhalle kam mir in den Sinn, dass ich während meiner gesamten Schulzeit kein gutes Haar am Sportunterricht gelassen hatte. Wie dumm von mir! Seit meinem Kampf mit dem Draug war mir mehr als bewusst geworden, was Fitness bedeutete. Ich hatte erkannt, dass ein gut trainierter Körper genau das Richtige war, um meinen Verstand in eine Killerwaffe zu verwandeln.
»Guten Tag, Acari Drew.« Wächterin Priti, meine Kampfsport-Trainerin, lächelte mir zu, als ich die Halle betrat. Ihre Sprache war stets ebenso untadelig wie ihre Haltung. »Nun sind alle meine Vögelchen im Nest.«
Ich erwiderte das Lächeln. Ganz klar. Denn ich bewunderte Wächterin Priti. Sie war klug, stark und schön – eine Art wahnsinnige Doppelgängerin von Padma Lakshmi mit einer Vorliebe für Chanel No. 5 und kesse Tennis-Outfits, die uns beibrachte, mit bloßen Händen zu töten. Ich war sicher, dass sie ihre favorisierte Waffe, einen rasiermesserscharfen Diskus, den sie Chakra nannte, ebenso geschickt und gefährlich einsetzte wie ihren Charme.
»Soeben gelandet«, entgegnete ich in Anspielung auf ihre Gewohnheit, uns Acari als Vögelchen zu bezeichnen. »Hoffentlich komme ich nicht zu spät.« Ich wusste, dass ich zu spät kam, zwar nur um neunzig Sekunden, aber damit handelten sich die meisten Mädels eine Woche Kloputzen ein.
»Wir haben noch nicht angefangen.« Priti holte aus einem Spind einen Stapel wattierter Westen. »Wenn du umgezogen bist, begib dich zu den übrigen Acari auf die Tribüne. Wir üben heute mit Messern.«
Sie strahlte mich an, weil sie wusste, wie sehr ich den Umgang mit Klingen aller Art liebte. Noch trainierten wir einfache Attacken und Abwehrtechniken, aber der Tag, an dem meine Wurfsterne zum Einsatz kamen, konnte nicht mehr allzu fern sein.
Wenn das nur alles gewesen wäre, was eine Wächterin beherrschen musste! Aber leider musste man sich auf dieser verrückten Insel mit weit mehr Dingen befassen als mit Phänomenologie und Schwertkampf. Mit illegalen und unmoralischen Dingen, die zum Handwerkszeug von Einbrechern, Hackern, Bombenbastlern, Dieben und Mördern gehörten.
Allem Anschein nach gab es für mich nur drei Möglichkeiten im Leben:
1. Die Beste sein.
2. Das Opfer sein.
3. Mit dem erstbesten Boot von hier abhauen.
Obwohl ich wusste, dass der dritte Punkt alles andere als einfach in die Tat umzusetzen war, hieß mein ultimatives Ziel immer noch Flucht.
Und doch …
Ein winziger Teil meines Ichs sträubte sich zunehmend gegen den Gedanken, von hier fortzugehen. Einige Leute aus meiner Umgebung entwickelten sich allmählich zu einer Ersatzfamilie für mich. Zu einer Gemeinschaft gehören – davon hatte ich immer geträumt. Der Aufstieg zu den Wächtern würde mir zu einem festen Platz in einer größeren Einheit verhelfen.
Wächterin Priti war mein großes Vorbild. Ich beobachtete sie begierig und versuchte ihr in allen Dingen nachzueifern. Sie war überall geachtet und beliebt. Ich hatte bemerkt, mit welcher Wärme einige der Sucher sie anlächelten. Vertrauen und eine enge Verbundenheit sprachen aus dieser Herzlichkeit.
Wenn Ronan mich nur einmal so anlächeln würde! Er hatte es seit dem Zwischenfall mit meinem iPod nicht mehr getan.
Falls … oder besser, sobald mir die Flucht gelang, bedeutete das auch Abschied nehmen. Abschied von Ronan. Abschied von dem Gefühl, dass ich
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