Isola - Roman
dass es dort elektrisches Licht gab und dass ich auch dort von Kameras überwacht sein würde. Dass ich nicht lange im Versteck würde warten müssen, falls mich der Mörder erwischte. Dass ein Boot kommen und mich zurück ans Festland bringen würde. Dass mein Rückflug dort von Tempelhoffs Assistentin organisiert werden würde.
Dass ich mich an die Regeln zu halten hatte.
Als wir uns hinter dem Haus vor dem schwarzen Briefkasten versammelten, ging gerade die Sonne unter. Der Kasten war groß und schwer, als ob er Hunger auf dicke Pakete und nicht auf zwölf kleine Umschläge hätte. Abendstille hatte sich über die Insel gelegt, es war eine unglaublich intensive, fast greifbare Atmosphäre. Die Blumen leuchteten, als wollten sie ihre Farben der Dämmerung entgegenhalten, die Luft war klar, fast gleißend, und die aufziehende Kühle, die ich gestern noch als wohltuend empfunden hatte, kam mir heute beinahe bedrohlich vor.
Einen endlosen Augenblick standen wir einfach nur da. Später sah ich diese Szene noch einmal auf dem Bildschirm. Aber sie ist auch ohne diese Aufzeichnung so präsent in mir, dass ich sie vor mir ablaufen lassen kann, wann immer ich die Augen schließe.
Joker zog grinsend eine Braue in die Höhe, als mein Blick ihn streifte. »Buh«, machte er, worauf Pearl zusammenzuckte, als hätte sie jemand gestoßen. Alpha fuhr sich durch das helle Haar. Er hatte ein Siegerlächeln auf den Lippen, wenn auch ein ziemlich künstliches. Milky fixierte den Schlitz des Briefkastens, Neander stand neben ihm. Sein kupferfarbenes Haar schimmerte in der Sonne und sein stämmiger Brustkorb hob und senkte sich in schnellem Rhythmus. Krys zog hektisch an ihrer Zigarette. Aus Lungs Gürtel lugte ein Messer, und als er meinen erschrockenen Blick bemerkte, lachte er. Elfe war ungewöhnlich still und Darling kam mir noch aufgeregter vor als zuvor. Solo dagegen wirkte deutlich entspannter. Seine Stirn war wieder ganz glatt und seine dunklen Augen sahen gelassen in die Runde.
Moon hatte denselben unbeteiligten überirdischen Gesichtsausdruck wie immer. Ihre großen Augen schienen durch uns hindurchzusehen, das eine silbrig, das andere hellbraun. Ihre Glatze schimmerte wie eine polierte Kugel.
Mit einem leisen Klacken verschwanden unsere Umschläge in dem schwarzen Kasten.
Auch das Tageslicht verschwand – als würde es ebenfalls geschluckt. Dunkelheit sickerte zwischen den Büschen und Bäumen hervor und der Wald hinter unserem Rücken hatte plötzlich etwas von einem lebendigen Wesen.
»Hat jemand Lust auf einen Nachtspaziergang?«, fragte Joker in das Schweigen. Krys schnaubte ärgerlich und verschwand im Haupthaus. Ich folgte ihr, zusammen mit Elfe und Pearl.
Wir vier waren die Ersten, die an diesem Abend zu Bett gingen. Ich hatte kein Gefühl für die Zeit, aber es kam mir vor, als wäre es tief in der Nacht. Die Lichter löschten wir erst, nachdem auch Moon und Darling gekommen waren, und die Dunkelheit erschien mir beinahe übermächtig.
Ich überlegte, ob ich meine Kerze anzünden sollte, fast hätte ich es getan, doch da knipste Elfe ihre kleine Leselampe an und griff nach ihrem Märchenbuch.
Seite um Seite hörte ich sie umblättern, bevor ich in einen unruhigen Dämmerzustand glitt. Alle paar Minuten riss ich die Augen auf. Elfes Leselicht war noch an, aber sie war eingeschlafen, das Märchenbuch hielt sie fest im Arm.
Draußen zirpten die Zikaden, ihre Geräusche schmerzten in meinen Ohren, und wenn sie schwiegen, drückte sich die Stille schwer auf meine Brust. Als ich irgendwann die schattenhafte Gestalt vor meinem Baldachin sah, hätte ich vor Entsetzen fast aufgeschrien. Aber ich konnte mich nicht bewegen, ich war wie gelähmt.
Es war Moon.
»Ich kann nicht schlafen«, sagte sie leise. Dann schob sie den Baldachin zur Seite und kroch, ohne mich zu fragen, zu mir unter die Decke. Ihr Körper war kühl und ihre Haut roch nach schattigem Laub.
»Du siehst ihr ähnlich«, wisperte sie in mein Ohr.
Ich machte mich steif. »Wem?«
»Dem Mädchen auf dem Foto.« Moon drehte sich zu mir um. Der Mond schien genau durch das Fenster über meinem Bett. Sein silbernes nachtbleiches Licht fiel auf das kleine Schneckengehäuse, das ich neben Esperanças Bild gelegt hatte.
Ich wagte nicht zu atmen.
Moon drehte mir wieder den Rücken zu und kuschelte sich wie ein kleines Tier an meinen Bauch.
Ich fragte mich, wie viele Szenen Platz haben würden in Tempelhoffs fertigem Film. Dann legte ich meine Arme um
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