Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)
aus schrieb, antwortete sie ausführlicher und auch persönlicher. Bereits am 8. Mai erhielt er von ihr ein Exemplar des Kmen.
Als ich das Heft aus dem grossen Kouvert zog, war ich fast enttäuscht. Ich wollte von Ihnen hören und nicht die allzu gut bekannte Stimme aus dem alten Grabe. Warum mischte sie sich zwischen uns? Bis mir dann einfiel, dass sie auch zwischen uns vermittelt hatte. Im übrigen aber ist es mir unbegreiflich, dass Sie diese grosse Mühe auf sich genommen haben, und tief rührend, mit welcher Treue Sie es getan haben, Sätzchen auf und ab, einer Treue, deren Möglichkeit und schöne natürliche Berechtigung, mit der Sie sie üben, ich in der tschechischen Sprache nicht vermutet habe. So nahe deutsch und tschechisch? Aber wie das auch sein mag, jedenfalls ist es eine abgründig schlechte Geschichte, mit einer Leichtigkeit, wie nichts sonst, könnte ich liebe Frau Milena Ihnen das fast Zeile für Zeile nachweisen, nur der Widerwille dabei wäre noch ein wenig stärker als der Beweis. Dass Sie die Geschichte gern haben, gibt ihr natürlich Wert, trübt mir aber ein wenig das Bild der Welt. Nichts mehr davon.
Dass Kafka die eigene Leistung – und damit in gewissem Sinn auch ihre – so rigide abwertete, dürfte Milena Jesenská befremdet haben. Das hinderte sie jedoch nicht daran, weitere Texte Kafkas zu übersetzen, u.a. Betrachtung (in Auswahl veröffentlicht), den Bericht an eine Akademie , der im Herbst 1920 in der kommunistischen Tribuna erschien, sowie Das Urteil , erschienen Ende 1923 in Česta .
Selbstverständlich stand Kafka der Tatsache, dass er zum ersten Mal übersetzt wurde, keineswegs so indifferent gegenüber, wie er vorgab. Noch am selben Tag, da er den Kmen erhielt, bat er seine Schwester Ottla per Postkarte, in einer tschechischen Buchhandlung zwanzig Exemplare des Hefts zu kaufen: »man kann damit billige Geschenke machen«. Wer diese Geschenke erhalten hat (gewiss mit Widmung), ist leider nicht überliefert.
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Kafka schreibt Hebräisch
Ich verstehe nicht alle Deine Sorgen wegen der Widerstände Deiner Eltern gegen Dein Studium. Ich hielt es schon für sicher, dass Du noch anderthalb Jahre in Europa (lache nicht) bleibst, ist das noch nicht sicher? Und gerade jetzt haben sie diese Frage entschieden? Nebenbei: Es ist doch unmöglich, dass Du jetzt schon einen Brief Deiner Eltern bekommen hast, in dem Du das Ergebnis der Unterredung Hugos mit Deinen Eltern findest, auch Hugos Frau, mit der ich heute sprach, hat bis jetzt keinen Brief von ihrem Mann in Jerusalem bekommen. Aber ich verstehe gut die Verwirrung, in der man auf einen entscheidenden Brief wartet, der die ganze Zeit herumirrt. Wie viele Male in meinem Leben habe ich in einer solchen Angst geglüht. Ein Wunder, dass niemand früher zu Asche wird als es in Wirklichkeit geschieht. Es tut mir sehr leid, dass auch Du so leiden musst, arme liebe Puah, aber inzwischen kommt schon der Brief, und alles ist gut.
Diesen Briefentwurf, adressiert an die 19jährige Puah Ben-Tovim in Berlin, schrieb Kafka im Frühsommer 1923 in hebräischer Sprache (siehe Faksimile).
Puah Ben-Tovim (1904–1991) wurde in Palästina als Tochter russischer Einwanderer geboren. Im Herbst 1921 kam sie auf Empfehlung Hugo Bergmanns, eines Klassenkameraden Kafkas, nach Prag, um zu studieren. Bergmann leitete zu dieser Zeit die Jüdische Nationalbibliothek in Jerusalem.
Im Winter 1922/23 nahm Kafka privaten Hebräischunterricht bei Ben-Tovim. Er verfügte bereits über gute Grundkenntnisse des Hebräischen, die er sich überwiegend im Selbststudium angeeignet hatte, doch legte er Wert darauf, auch umgangssprachliches Vokabular zu erlernen (vgl. Fundstück 86). Eine Zeitlang erwog er ernsthaft die Auswanderung nach Jerusalem, wohin Else Bergmann ihn eingeladen hatte, doch dieser Plan erwies sich schon aus gesundheitlichen Gründen als undurchführbar.
Mitte 1923 ging Puah Ben-Tovim nach Berlin, gegen den Willen ihrer Eltern, wie Kafkas Brief andeutet. Obwohl ab September auch Kafka in Berlin lebte, wurde der Hebräischunterricht nur kurzzeitig fortgeführt, dann brach der Kontakt ab.
Kafkas Notizhefte belegen, dass er ein ehrgeiziger und motivierter Schüler war, der jede Unterrichtsstunde sorgfältig vorbereitete. Auch die beiden erhaltenen hebräischen Briefentwürfe lassen erkennen, dass er seiner Lehrerin einen möglichst fehlerfreien Sprachgebrauch demonstrieren wollte. Allein die korrekte hebräische Schreibweise von »Europa« kannte er
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