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Ist Gott ein Mathematiker

Ist Gott ein Mathematiker

Titel: Ist Gott ein Mathematiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Livio
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Mathematiker gibt es eine zweite Wirklichkeit, die ich als mathematische Wirklichkeit bezeichnen möchte; und über das Wesen dieser mathematischen Wirklichkeit herrscht sowohl unter Mathematikern als auch unter Philosophen alles andere als Einigkeit. Manche behaupten, es sei «geistig», und wir konstruierten es in gewisser Weise, andere halten dagegen, es sei außerhalb unserer selbst und unabhängig von uns. Der Mensch, der mit einer überzeugenden Bewertung der mathematischen Wirklichkeit aufwarten könnte, hätte viele der schwierigsten metaphysischen Probleme enträtselt. Gelänge es ihm auch noch, die physikalische Realität in seine Darstellung einzubeziehen, hätte er sie alle gelöst.
    Ich wünschte nicht auch nur eine dieser Fragen zu erörtern, selbst wenn ich dazu die nötige Kompetenz besäße, aber ich will meinen eigenen philosophischen Standpunkt hier klarmachen, um kleineren Missverständnissen vorzubeugen. Ich glaube, dass die mathematische Realität außerhalb unserer selbst existiert, dass es unsere Aufgabe ist, sie zu entdecken oder zu
beobachten,
und dass die Sätze, die wir beweisen und die wir großspurig als unsere «Schöpfungen» bezeichnen, nichts weiter sind als Aufzeichnungen unserer Beobachtungen. Diese Ansicht wurde in der einen oder anderen Form von vielen renommierten Philosophen seit Platon vertreten, und ich spreche die Sprache eines Mannes, der diese teilt.
    Die Mathematiker Edward Kasner (1878–1955) und James Newman (1907–1966) verliehen in
Mathematics and Imagination
(«Mathematik und Vorstellungskraft») der genau entgegengesetzten Betrachtungsweise Ausdruck:
    Dass die Mathematik ein Ansehen genießt, an das keine andere Art von Zweckdenken herankommt, ist nicht verwunderlich. Sie hat so viele Fortschritte in den Wissenschaften möglich gemacht, ist gleichermaßen so unentbehrlich in praktischen Angelegenheiten und ein solches Meisterwerk der reinen Abstraktion, dass die Anerkennungihrer überragenden Bedeutung unter den intellektuellen Leistungen des Menschen nicht mehr als recht und billig ist.
    Ungeachtet dieser Vorrangstellung wurde ihr die erste wahre Wertschätzung erst in jüngster Zeit durch die Errungenschaft der nichteuklidischen und vierdimensionalen Geometrien zuteil. Damit soll nicht gesagt werden, dass die durch Infinitesimalrechnung, Wahrscheinlichkeitstheorie, Topologie und Arithmetik des Unendlichen sowie andere Themenbereiche erzielten Fortschritte, die wir im Vorhergehenden besprochen haben, als weniger wertvoll einzustufen seien. Jeder davon hat die Mathematik erweitert und sowohl ihre Bedeutung als auch unser Verstehen des physikalischen Universums vertieft. Dennoch hat keine so viel zur mathematischen Innenschau, zum Wissen um die Beziehung der einzelnen Bereiche der Mathematik zueinander und zur Mathematik als Ganzem beigetragen wie die nichteuklidischen Häresien.
    Als ein Ergebnis des beherzt-tapferen Geistes, der diese Ketzereien hervorgebracht hat, haben wir die Vorstellung überwunden, mathematische Wahrheiten existierten außerhalb und unabhängig von unserem Geist. Es kommt uns vielmehr seltsam vor, dass eine solche Ansicht je existiert haben soll. Dennoch ist es das, was Pythagoras gedacht haben würde – und Descartes, dazu Hunderte anderer großer Mathematiker vor dem 19. Jahrhundert. Heutzutage ist die Mathematik ungebunden, hat ihre Fesseln abgeworfen. Worin immer ihr Wesen bestehen mag, wir betrachten sie als ebenso frei wie den Geist, genauso fassbar wie die Fantasie. Die nichteuklidischen Geometrien sind der Beweis, dass die Mathematik im Unterschied zur Musik der Sphären von Menschenhand gemacht wird und nur den Grenzen unterworfen ist, die ihr die Gesetze des Denkens auferlegen.
    In krassem Gegensatz zu der Präzision und Gewissheit, durch die sich Aussagen in der Mathematik sonst im Allgemeinen auszeichnen, haben wir es hier also mit zwei komplett konträren Standpunkten zu tun, wie sie eigentlich eher für Debatten in der Philosophie und der Politik typisch sind. Sollte uns das überraschen? Eigentlich nicht. Ob die Mathematik eine Erfindung oder eine Entdeckung darstellt, ist schließlich absolut keine mathematische Frage.
    Der Begriff «Entdeckung» schließt Präexistenz ein – ein Dasein in irgendeinem physischen oder metaphysischen Universum –, der Begriff «Erfindung» hingegen den menschlichen Geist, den einzelnenoder den kollektiven. Damit gehört diese Frage in einen interdisziplinären Bereich, betrifft mithin so

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