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Ist Gott ein Mathematiker

Ist Gott ein Mathematiker

Titel: Ist Gott ein Mathematiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Livio
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dass jeder, der die Geometrie beherrscht, nichts von Physik verstehen kann und somit nicht physikalisch über physikalische Fragen reden und nachdenken kann! Eine Folgerung, nicht minder närrisch als die eines gewissen Arztes, der sich in einem Anfall von Torheit zu der Aussage verstieg, der große Doktor Acquapendente [der italienische Anatom Hieronymus Fabricius (1537–1619) aus Acquapendente], seines Zeichens berühmter Anatom und Chirurg, solle sich mit seinen Skalpellen und Salben zufriedengeben und nicht versuchen, mit Arzneien Heilung zu erreichen, als ob das Wissen um die Chirurgie der Medizin entgegenstehe und diese untergrabe.
    Ein schönes Beispiel dafür, wie die eigene Haltung gegenüber beobachteten Naturphänomenen deren Interpretation verändern kann, war die Entdeckung der Sonnenflecken. Wie im Vorhergehenden bereits erwähnt, hatte der Jesuit und Astronom Christoph Scheiner diese Flecken kundig und genau beobachtet. Er machte allerdings den Fehler, sein Urteil durch seine aristotelischen Vorstellungen von einem «vollkommenen» Himmel leiten zu lassen. Als er feststellte, dass die Flecken nicht immer wieder an dieselbe Stelle zurückkehrten, beeilte er sich folglich zu versichern, es sei möglich, «die Sonne von der Unreinheit» dieser Flecken frei zu sehen. Seine Vorstellung von einem ewigen unveränderlichen Himmel legte seiner Fantasie Ketten an und hinderte ihn, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass die Flecken sich verändern könnten (möglicherweise so sehr, dass sie kaum mehr wiederzuerkennen waren). Er kam daher zu dem Schluss, dass die Flecken Himmelskörper sein mussten, die die Sonne umkreisten. Galileis Ansatz bei seinen Überlegungen zur Frage der Entfernung der Sonnenflecken von der Sonnenoberfläche war ein ganz anderer. Er hatte drei Beobachtungen gemacht, die seiner Ansicht nach einer Erklärung bedurften. Erstens: Die Flecken schienen in Zentrumsnähe größer, als wenn sie den Rand der Sonnenscheibe erreicht hatten. Zweitens: Die Zwischenräume zwischen den Flecken schienen sich zu vergrößern, wenn sich diese dem Zentrum näherten. Und schließlich schienen sich die Flecken in Zentrumsnähe rascher zu bewegen als in der Nähe des Randes. Galilei vermochte mit einer einzigen geometrischen Konstruktion zu zeigen, dass seine Hypothese – der zufolge die Flecken auf der Sonnenoberfläche lokalisiert sein mussten und auf ihr transportiert wurden – sich mit sämtlichen beobachteten Tatsachen vertrug. Seine ausführliche Erklärung fußt auf dem optischen Phänomen der perspektivischen Verkürzung – der Tatsache, dass Formen auf einer Kugel in der Nähe des Umrisses zwangsläufig schmaler und näher beisammenliegend erscheinen müssen als im Zentrum (Abbildung 19 zeigt diesen Effekt anhand von Kreisen auf einer Kugeloberfläche).
    Galileis Überlegung war von fundamentaler Bedeutung für den weiteren wissenschaftlichen Fortschritt. Er hatte gezeigt, dass aus Beobachtungsdaten nur dann bedeutsame Beschreibungen folgen, wennsie in die richtige mathematische Theorie eingebettet werden. Ein und dieselbe Beobachtung konnte zu widersprüchlichen Deutungen führen, solange sie nicht in einem umfassenderen theoretischen Zusammenhang gesehen wurde.

    Abbildung 19
    Galilei ließ keine Gelegenheit aus, einen ordentlichen Streit auszufechten. Die nachdrücklichste Darstellung seiner Gedanken zum Wesen der Mathematik und ihrer Rolle für die Wissenschaft findet sich in einer weiteren polemischen Schrift aus seiner Feder –
Il Saggiatore
(«Der Prüfer mit der Goldwaage»). Diese brillante, meisterhaft formulierte Schrift erlangte eine solche Popularität, dass sich angeblich sogar der damalige Papst, Urban VIII., bei den Mahlzeiten daraus hat vorlesen lassen. Pikanterweise war die zentrale These dieses Traktats durch und durch falsch. Galilei vertrat darin den Standpunkt, Kometen seien eigentlich Sinnestäuschungen, atmosphärische Erscheinungen, die sich durch irgendwelche Launen der optischen Brechung auf dieser Seite des Mondes ergäben.
    Die Hintergrundgeschichte zu
Il Saggiatore
klingt ein bisschen nach dem Libretto einer italienischen Oper. Im Herbst 1618 erschienen nacheinander drei Kometen am Himmel. Der dritte blieb fast drei Monate hindurch sichtbar. Im Jahr darauf veröffentlichte der JesuitenpaterHoratio Grassi, Mathematiker am römischen Kollegium, anonym eine Schrift über seine Beobachtungen an diesen Kometen. Auf den Spuren des dänischen Astronomen Tycho Brahe kam

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