Ist Gott ein Mathematiker
Grassi zu dem Schluss, dass die Kometen sich irgendwo zwischen Mond und Sonne befänden. Diese Schrift wäre vielleicht unbemerkt geblieben, hätte Galilei nicht beschlossen, darauf zu antworten, weil man ihm gesagt hatte, dass einige Jesuiten Grassis Aufsatz als harten Schlag gegen die kopernikanische Lehre betrachteten. Seine Antwort erfolgte in Gestalt von Vorträgen (die Galilei weitgehend selbst verfasst hatte), die aber von seinem Schüler Mario Guiducci gehalten wurden. In der schriftlich veröffentlichten Fassung dieser Vorlesungen, dem
Discorso sulle comete
(«Abhandlung über die Kometen»), griff Galilei Grassi und Tycho Brahe direkt an. Dieses Mal war Grassi an der Reihe, Anstoß zu nehmen. Unter dem Pseudonym Lothario Sarsi – einem seiner Schüler – verfasste er eine geharnischte Antwort, in welcher er Galilei mit unmissverständlichen Worten heftig angriff. Die Antwort trug den Titel
Libra Astronomica ac Philosophica, qua Galilaei Galilaei opiniones de cometis a Mario Guiducio in Florentina Academia expositae, atque in lucem nuper editae, examinantur a Lothario Sarsio Sigensano
(«Philosophische und astronomische Waage, auf der die Meinungen des Galileo Galilei über die Kometen, die von Mario Guiducci in der Florentiner Akademie vorgestellt und kürzlich ans Licht gebracht wurden, gewogen werden von Lothario Sarsi aus Siguenza»). In Verteidigung seiner Anwendung der Methoden Tychos zur Entfernungsbestimmung erklärte Grassi (als sein eigener Schüler) in beißendem Tonfall: Jawohl, er sei der Autorität Tychos gefolgt: ob er etwa jene des Ptolemäus hätte vorziehen sollen, welche des Irrtums überführt worden sei, oder vielleicht gar die des Kopernikus, welche jeder Gottesfürchtige verabscheuen müsse, ebenso wie dessen jüngst verdammte Hypothese?
Dieser Text demonstriert ausgesprochen plastisch, auf welch schmalem Grad ein jesuitischer Mathematiker sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts bewegen musste. Einerseits war Grassis Kritik an Galilei komplett gerechtfertigt und von durchdringender Einsicht. Andererseits hatte Grassi sich – unter dem Druck, sich auf keinen Fall der kopernikanischen Lehre anschließen zu dürfen – eine Zwangsjacke angelegt, die seiner Gesamtargumentation schadete.
Galileis Freunde waren derartig besorgt, dass Grassis Angriffe Galileis Autorität untergraben könnten, dass sie den Meister zu einer Antwort drängten. Dies führte zur Drucklegung von
Il Saggiatore
im Jahr 1623 (der komplette Titel erläutert, dass in dieser Schrift der «Inhalt der
philosophischen und astronomischen Waage
des Lothario Sarsi aus Siguenza mit der Goldwaage sorgfältig nachgewogen werde»).
Wie ich oben bereits erwähnt hatte, enthält
Il Saggiatore
Galileis deutlichste und einflussreichste Aussage zur Relation zwischen der Mathematik und dem Kosmos. Hier ein höchst bemerkenswerter Abschnitt daraus:
Bei Sarsi meine ich den festen Glauben herauszuspüren, man müsse sich beim Philosophieren auf die Meinung irgendeines berühmten Autors stützen, so als ob unser eigener Geist, vollständig steril und unfruchtbar bleiben müßte, solange er sich nicht mit dem Vernunftdenken von jemand anderem vermählt. Vielleicht meint er, die Philosophie sei ein Roman, welcher der Fantasie irgendeines Autors entsprungen sei, so wie die
Ilias
oder der
Rasende Roland
[ein episches Versgedicht aus dem 16. Jahrhundert], also ein Werk von der Art, bei dem die unwichtigste Frage von allen ist, ob das darin Geschriebene auch wahr sei. Nun, mein lieber Sarsi, das ist in Wirklichkeit ganz anders.
Die Philosophie ist ins große Buch des Universums eingeschrieben, und dieses Buch liegt ständig offen vor unseren Augen. Aber dieses Buch kann man nicht verstehen, wenn man nicht zunächst seine Sprache begreift und das Alphabeth zu entziffern versteht, in dem es geschrieben ist. Es ist in der Sprache der Mathematik geschrieben, und seine Schriftzeichen sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren, ohne die es keinem Menschen möglich ist, ein einziges Wort davon zu verstehen, ohne sie tappt man wie in einem finsteren Labyrinth umher.
[Kursivierung von mir]
Verblüffend, oder? Jahrhunderte bevor die Frage, warum die Mathematik eigentlich eine solche Macht hat, die Natur zu erklären, überhaupt gestellt wurde, kannte Galilei bereits die Antwort. Für ihn war Mathematik schlicht und einfach die Sprache des Universums. Um das Universum verstehen zu können, so seine Rede, muss man diese Sprache sprechen.
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