Ist Schon in Ordnung
liegt im Krankenhaus Stensby und soll dort Egil zur Welt bringen, aber das habe ich nicht begriffen, nur dass sie beide weg sind und Kari bei mir ist, und das ist nicht das erste Mal. Es ist schon komisch, woran man sich erinnert. Es klopft am Wohnzimmerfenster, und ich drehe mich um und sehe das Gesicht meines Vaters hinter der Scheibe. Er sieht merkwürdig aus. Er winkt mit einer Hand und schneidet Grimassen. Sein Gesicht füllt das ganze Fenster aus. Die Tür ist verschlossen, und er hat seinen Schlüssel verloren. Kari geht los, um aufzuschließen, sie geht langsam, als hätte sie keine Lust. Ich höre lautes Krachen und laufe in den Flur und sehe meinen Vater auf dem Boden liegen. Er liegt da und lacht in die Planken. Ich laufe schnell zu ihm und setze mich auf seinen Rücken, doch da steht er auf, und ich falle nach hinten und stoße mit der Schulter an den Schuhschrank. Es tut weh. Ich schreie, aber er dreht sich nicht um. Er geht zum Wohnzimmerschrank, der Opas Schrank heißt, das weiß ich schon. Er lacht laut und sagt:
»Jetzt seid ihr zu dritt. Das müssen wir feiern!« Ich verstehe nicht, was er meint, aber im Schrank findet er die Pistole. Ich habe sie vorher schon gesehen. Als ein Ding unter vielen, das ändert sich jetzt. Er hebt den Arm und schießt dreimal in die Decke. Wir halten uns die Ohren zu, die Schüsse lassen unsere Körper erzittern.
»Das vergesse ich nie«, sagt Kari, »ich dachte, mein Kopf würde platzen.« Wir gehen vom Friedhof in Grorud aus hoch zum Trondhjemsveien. Meine Mutter läuft ein paar Schritte hinter uns, sie heult und will allein sein. Es ist Egils sechzehnter Geburtstag. Es ist ein Freitag im Oktober, ich habe mir in der Schule freigenommen, und wenn wir nach Hause kommen, folgt Jussi Björling auf dem Plattenspieler. Sie legt Opern auf, wenn etwas nicht in Ordnung ist, sie legt Opern auf, wenn alles in Ordnung ist, sie legt immer Opern auf. Manchmal schließt sie die Tür ab, dreht die Lautstärke auf, stellt sich auf einen Stuhl und dirigiert mit geschlossenen Augen. Das habe ich auf dem Heimweg von Freunden bei Linderud durch das Fenster gesehen, habe über die kleine Senke mit dem Bächlein in der Mitte in den dritten Stock unseres Blocks geschaut und gesehen, wie meine Mutter auf einem Stuhl steht und zu Musik dirigiert, die ich nicht hören kann, und ich habe mich gefragt, wie viele es noch gesehen haben.
Und am liebsten hört sie Jussi Björling. An der Wand im Wohnzimmer hängt ein signiertes Foto. Woher sie es hat, weiß keiner, aber es hat uns immer beeindruckt, hat ihren Platten Bedeutung verliehen, und es hing schon in unserem Haus auf dem Land. Mein Vater konnte es nicht ausstehen, er mochte keine Opern, er mochte Tango, und alles andere war für Leute mit dünnem Blut. Er hatte sein Akkordeon,auf dem er Tango spielte, und anscheinend war er auch ganz gut.
»Jussi Björling? Der sieht doch aus wie ein Büroangestellter!«, sagte er ständig, und einmal zerbrach er im Suff mehrere ihrer Platten.
»Zum Glück haben die Nachbarn die Polizei gerufen«, sagt Kari, »sonst hätte es übel ausgehen können. Du warst ja erst zwei. Und er war so stockbesoffen. Er war ständig stockbesoffen. Mann, war ich froh, als wir endlich von ihm wegkamen.«
Wir reden über ihn, als wäre er ebenfalls tot, das taten wir immer, wenn wir überhaupt über ihn sprachen. Und das kam nicht oft vor. Aber tot war er nicht.
Wir gehen den Trondhjemsveien hinunter. Unten liegen Flaen und Kaldbakken, wo mehrere aus meiner Klasse wohnen. Unter anderem Venke, ich weiß genau, hinter welchem Fenster ihr Zimmer ist. Ich war dort und habe auf ihrem Bett gelegen, habe mit der Hand unter ihrer Bluse mit ihr geknutscht, und sie hat mit der Hand in meinem Schritt und dem Mund an meinem Hals geflüstert:
»Ich glaube, dass ich vielleicht in dich verliebt bin, du bist so stark.« Da bekam ich Angst und rannte weg.
Die kleinen Blocks wirkten früher so wichtig, jetzt, vor den mächtigen Kolossen in Ammerud, sehen sie aus wie einem Comic entnommen. Darüber liegt Rødtvet, und dahinter ist nur noch Wald, stunden-und tagelang, wenn man will. Du kannst dort in den Wald gehen und loslaufen und weit auf dem Land herauskommen.
»Er hat fünf Jahre gebraucht, um hierherzukommen«, sage ich, »er muss unterwegs eingeschlafen sein.«
»Was redest du da?«
»Er ist hier. Ich habe ihn vor über einer Woche gesehen, als ich mit Zeitungaustragen fertig war.«
»Wen?«
»Ihn, von dem wir gerade
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