Istanbul: Ein historischer Stadtführer
«Komitee»,
wie auch den langen Schaftstiefel der Deutschen,
der uns von 1914 bis 1918
zermalmte und zerstörte.
Zucker: Unerreichbar wie ein kostbares Geschmeide und unauflösbar,
Lampenöl: aufgelöst zum Preis von Gold?
jene biederen, arbeitsamen, elenden Istanbuler
verbrannten ihren Urin in Lampen der Fünfergröße.
Sie aßen Maiskolben, Gerstenkörner und die Samen der Besenheide
Die Hälse der Kinder wurden nicht größer als ein Strohhalm.
Unterdessen floss der Rheinwein in Tarabya,
in den Petits Champs und im Klub der Prinzeninsel.
Nach der Niederlage gerät die Stadt unter die Kontrolle von Staaten, deren Vertreter mit «unseren eigenen Schweinehunden», dem Sultan Vahîdeddîn (1918–1922) und seinem Großwesir und Schwiegersohn Ferîd Pascha, zusammenarbeiten. Es gibt eine «Vereinigung der Freunde der Engländer» und Anhänger eines amerikanischen Mandats, die sich von der Annäherung an die Westmächte das Überleben der Resttürkei versprechen.
Im vergangenen Herbst
lieferten sie mich vier Staaten aus,
vier Staaten mit blutunterlaufenen Augen,
mich, nackt und bloß wie ein Neugeborenes.
Meine Brüste sind ausgetrocknet und voller Blut.
Ich, die Stadt Istanbul,
Franzosen, Engländer, Italiener, Amerikaner,
und auch Griechen,
dann noch die armseligen Neger aus Afrika
sie machen mich kaputt auf der einen Seite
Auf der anderen Seite unsere eigenen Schweinehunde:
Vahdettin, der Sultan,
und sein Schwiegersohn Ferid,
die «Freunde der Engländer» und die Anhänger des Mandats.
Beyoğlu im blau-weißen Fahnenschmuck
Im Weltkrieg gelang es den Osmanen nicht, den von Süleymân Nâzıf geforderten Abstand zu den feindlichen Nachbarn zu vergrößern. Im Gegenteil, der Pariser Vorortsfriede von Sèvres (10. August 1920) sah die Aufteilung Anatoliens unter den Siegern vor. Istanbul sollte nach diesem Vertrag allerdings die Hauptstadt einer Resttürkei bleiben.
Wenige Wochen nach der Kapitulationserklärung auf einem englischen Kriegsschiff in der Bucht von Mudros (31. Oktober 1918) betrat der Kommandant der französischen Besatzungstruppen, General Franchet d’Esperey, auf dem Kriegsschiff
Patrie
aus Saloniki kommend, am 23. November 1918 zum ersten Mal Istanbul. Süleymân Nazîf schrieb nach einem zweiten, aufwendig inszenierten Einmarsch d’Espereys am 8. Februar 1919 einen weiteren einflussreichen Zeitungsartikel über den General, der auf einem Schimmel von Sirkeci über die Galatabrücke nach Beyoğlu ritt, wo sich zahlreiche griechische Häuser im blau-weißen Fahnenschmuck zeigten.
Zwischen beiden Auftritten d’Espereys hatten sich entscheidende Dinge ereignet: Die deutschen Truppen wurden auf den Prinzeninseln interniert, der Botschafter hatte im Sinne des Waffenstillstands die Stadt verlassen. Am 21. Dezember 1918 löste sich das Parlament auf. Wenige Tage später erschien ein griechisches Kriegsschiff vor İzmir. Die starken Männer des jungtürkischen Regimes Enver und Cemâl wurden aus dem Heer ausgestoßen. Nazîfs Artikel «Ein Schwarzer Tag» erschien trotz der herrschenden Zensur auf der Titelseite der Zeitung
Hadîsât
in einem Trauerrand.
Die Freudenkundgebungen beim gestrigen Einmarsch des französischen Generals in unsere Stadt durch einen Teil unserer Mitbürger hat in den Herzenund der Geschichte der Türken und Muslime eine Wunde geschlagen, aus der für alle Ewigkeit Blut fließen wird. Es mögen noch Jahrhunderte vergehen, selbst wenn sich die heutige Trauer und Ungunst des Schicksals in Freude und Glück verwandelt haben mag, diese wehe Stelle wird spürbar bleiben und wir werden diesen Kummer und Schmerz Kindern und Kindeskindern, von Geschlecht zu Geschlecht als ein zu beweinendes Vermächtnis übertragen.
Der Artikel fährt mit heftigen Angriffen auf «einen Teil der Bevölkerung» fort, mit dem natürlich die Griechen gemeint waren. Sie verdankten den Osmanen die Fortdauer ihrer Existenz und ihrer Sprache und sie antworteten ihnen mit jenem «schadenfreudigen Spektakel»!
Die Türkei schien im Ausland keine Freunde mehr zu haben. Um so größer war der Eindruck, den ein offener Brief des französischen Schriftstellers Pierre Loti in der Pariser Zeitung
L’Œuvre
auslöste. Der damals weltbekannte Autor, der u.a. einen sentimentalen Türkeiroman
Aziyadé
geschrieben hatte, setzte sich für die Korrektur des «Fehlers» von 1914 ein und plädierte für eine starke Türkei im Bündnis mit Frankreich. In Istanbul kam es im Großen Saal der
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