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Istanbul: Ein historischer Stadtführer

Istanbul: Ein historischer Stadtführer

Titel: Istanbul: Ein historischer Stadtführer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kreiser
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Universität zu einer Kundgebung der Pierre-Loti-Gesellschaft unter Vorsitz des Thronfolgers Abdülmecîd. Als Redner hatte man Süleymân Nazîf eingeladen. Es ist heute befremdlich, dass Nâzıf den französischen Schriftstellerkollegen, der nachweislich des Türkischen nicht mächtig war, als feinen und verständnisvollen Kenner der altosmanischen Lebensart feierte.
Hâlide Edîb und das Sultan Ahmed Meeting
    Die junge Schriftstellerin Hâlide Edîb (Adıvar, 1884–1964) gehörte zu den Teilnehmerinnen der Demonstration am Sultan Ahmed-Platz vom 23. Mai 1919, wo eine riesige Menschenmenge für die Selbstbestimmung der Türkei eintrat. Hauptredner war der volkstümliche Dichter Mehmed Emîn. Das «Sultan Ahmed Miting» wird in ihrem Roman «Das Flammenhemd» aus der Sicht eines jungen Patrioten geschildert:
    Eine Zeitlang wurden wir an das Gitter gedrängt, das den Garten (der Moschee) abschloß. Ich blickte mich um. Die Sultan Ahmed
Rüşdiye
(eine staatliche Schule) gegenüber, sowie alle sich anschließenden Häuser in ihrer Front waren ganz schwarz vor Menschen. Durch die Tramvay-Straße schob sich ununterbrochen ein Menschenzug vorbei. Stumm und still, so daß das Geräusch der Schritte noch lauter klang.
    Abb. 37: Das von Mustafâ Kemâl Pascha (Atatürk) 1918/19 bewohnte Haus in Şişli
    An jenem Tage sah ich zum ersten Male die eigentliche Türkei. Sah die dunklen, abgewandten, geheimnisvollen Teile Istanbuls. Diese Stadtviertel hatten die Mäuler geöffnet und ihre Bewohner ausgespien. Ich sah eine Menge alter Männer und Frauen … Welche Unmenge von Frauen gab es da. Alle mit roten, verweinten Augen. Gesichter, wie sie auf dem Gemälde aus der Französischen Revolution: «Sturm der Weiber auf Versailles» zu sehen sind. Niemand beachtete seinen Vorder- oder seinen Hintermann. Lastträger, junge Intelligenzler, Arbeiter aus Karagümrük, Stambuler Damen, moderne, geschminkte Mädchen mit hochgestöckelten Schuhen standen an diesem Tag Schulter an Schulter gepreßt. Wange an Wange …
    Wir bemühten uns, mit aller Kraft durch das Gedränge zu kommen. Wir wollten auf die Stufen des Brunnens des Deutschen Kaisers und von dort aus die Reden anhören. Ein Zug Offiziere und Soldaten arbeitete sich vorwärts. Die dichtgedrängte Menschenmenge gab den Weg frei. Ich sah, daß es lauter Invaliden waren. Der eine humpelte auf Krücken. Der andere hatte nur einenArm. Ein dritter hatte die Augen geschlossen und hielt sich an einem hinkenden Kameraden fest.
    An Hâlide Edîbs Rolle während des
Mitings
erinnert ein kleines Denkmal mit ihrer Büste gegenüber vom Eingang zur Zisterne Yerebatan.
Die Besatzungszeit
    Nachdem die Entente ab März 1920 Istanbul auch militärisch kontrollierte, wuchs der Widerstand gegen die Sieger. Der Großteil der Istanbuler Bevölkerung sympathisierte mit dem anatolischen Widerstand, den Mustafâ Kemâl mit wachsendem Erfolg organisierte. In die Stadt strömten jetzt auch russische Flüchtlinge. Insgesamt sollen sich bis zu 150.000 Russen vorübergehend in Istanbul aufgehalten haben. Viele unter ihnen mussten ihren Lebensunterhalt zunächst durch den Verkauf von mitgebrachten Luxusgütern sichern. Ahmed Râsim hat seine Eindrücke 1924 festgehalten:
    Nach dem Waffenstillstand füllte sich Istanbul nicht nur mit russischen Flüchtlingen, sondern auch die Schaufenster waren voller eleganter Waren: Objekte aus Elfenbein, silbernes Tischgerät, goldene Platten, französische Spitzen, Hermelinpelze – den Schätzen des zaristischen Russland. Später erschienen am Strand von Florya (am Marmarameer) Russen, die in Badeanzügen, Männlein und Weiblein, im Meer schwammen. In diesen Jahren gingen die türkischen Frauen noch voll verschleiert. In den Zügen, die wir von Sirkeci nach Makriköy (heute Bakırköy) nahmen, im
Tünel
, mit dem wir von Galata nach Beyoğlu hinauffuhren, und in den Straßenbahnen gab es eigene Frauenabteilungen. Als ich eines Tages in der Straßenbahn eine Russin sah, die in aller Seelenruhe ihr Rouge und ihre Puderdose herausnahm und sich schminkte, kannte meine Überraschung kein Ende. Istanbul, die Herrscherin aller Städte, war nicht mehr eine geschlossene Dose. Es wehte ein neuer Wind. Die Kultur des Westens und des Ostens hatte sich miteinander vermischt.
    Der Sieg der anatolischen Truppen über die griechische Armee bei Dumlupınar im August 1922 beendete einen fast ununterbrochenen 10-jährigen Krieg der Türkei. Noch vor Ausrufung der Republik wurde Ankara zur

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