Istanbul: Ein historischer Stadtführer
worden. Es ist bekannt, dass Selîm I. bei der Eroberung Ägyptens (1517) zahlreiche islamische Heiligtümer nach Istanbul entführte. Für einzelne Objekte fehlen aber schriftliche Belege. Für die osmanische Dynastie war der Besitz des Prophetenmantels und der Heiligen Standarte eine Legitimationsquelle, die immer wichtiger wurde, je weiter politische Macht und religiöser Anspruch auseinanderklafften. Alljährlich am 15. Ramazân reinigte der Sultan den Prophetenmantel in einem aufwendigen Zeremoniell. Die sogenannte «Geschichte des Inneren Palastes» des Atâ, eine Hauptquelle über das Zeremonialwesen, beschreibt den Ablauf:
Am fünfzehnten Abend des heiligen Monats werden in der Gegenwart der Majestät zwei mit Rosenwasser gefüllte Becken und etwa 60 reine Gefäße und frische Schwämme auf zwei verzierte Ledermatten ausgebreitet. Der Waffenmeister nimmt einige Schwämme, tränkt sie mit Rosenwasser und überreicht einen nach dem anderen ihrer Majestät, dem Kalifen. Der Padischah poliert mit seinen gesegneten Händen das Gitter (das den Schrein) des Mantels der Glückseligkeit (umgibt). Gleichzeitig befeuchten auch die Kämmerer und Steigbügelhalter sowie sämtliche hochrangige Kammerherrn jeweils einen Schwamm und wischen, so hoch ihre Arme reichen, die Wände, kleine Türen und Fenster, Flügel und Deckel des heiligen Bücherschreins, in einem Wort das gesamte hochheilige Appartement. Die Schwämme werdennach der Übergabe an die schon genannten Höflinge in frömmster Weise deponiert.
Am folgenden Tag öffnet der Padischah mit dem goldenen Schlüssel den großen Silberschrein des Prophetenmantels, anschließend, ebenfalls mit einem goldenen Schlüssel, eine mit zwei Flügeln geschlossene Lade. Der jetzt zum Vorschein kommende Prophetenmantel wird am Kragen leicht befeuchtet. Anschließend wird er sofort durch ein in die Nähe gehaltenes Räucherbecken mit Ambra getrocknet. Dieser Brauch wurde 1240 (1824/25) unter Mahmûd II. aufgehoben.
Abdülhamîds II. letzter Gang
In unmittelbarer Nähe der Reliquien fand die Totenwaschung der Sultane statt. Von dem vorletzten Zeremoniell dieser Art in der osmanischen Geschichte für Abdülhamîd II. im Jahr 1918 hat uns Ahmed Refîk, der einer der populärsten Historiker der frühen Türkischen Republik werden sollte, einen eindringlichen Augenzeugenbericht hinterlassen. Im Topkapı Sarayı erinnert nur wenig an Abdülhamîd II., der den Palast zu keinem Zeitpunkt genutzt hatte. Aus seiner Zeit stammen einige Objekte in der Schatzkammer und ein «mit Kaschmirseide gefütterter Pyjama» aus Paris in der Abteilung der Sultansgewänder. Abdülhamîd II. war nach Ausbruch des Balkankriegs aus seinem Verbannungsort Saloniki nach Istanbul zurückgebracht worden und bewohnte seit Dezember 1912 das ihm zugewiesene Uferpalais von Beylerbeyi. Als der Fünfundsiebzigjährige am 10. Februar 1918 die Augen schloss, überließ der völlig machtlose Sultan Mehmed V., der ihm wenige Monate später im Tod nachfolgen sollte, Enver Pascha die Gestaltung des Totenzeremoniells. Enver hatte Abdülhamîd in der jungtürkischen Revolution von 1908 entmachtet und ein Jahr später nach Saloniki bringen lassen.
Der ehemalige Herrscher war in die Ewigkeit eingegangen. Zunächst erfuhr ich von diesem Ereignis aus den Zeitungen. Der Bosporus lachte unter den glänzenden Strahlen der Sonne. Man konnte den entfernten Palast von Beylerbeyi in dieser Bläue erkennen. Sultan Abdülhamîd II., der über dreißig Jahre auf dem osmanischen Thron gesessen hatte, sollte wenige Stunden später im schönen Istanbul beerdigt werden. Es war vorgesehen, Sultan Abdülhamîds Leichnam vom Schloss Beylerbeyi in das Topkapı Sarayı zu bringen. Dort sollte die Waschung vorgenommen werden, um ihn gegen neun Uhr in der Türbe von Sultan Mahmûd (II.) beizusetzen. Ich ging zum Topkapı Sarayı. Dort wartete am mittleren Tor ein einziger Posten unter demTuchhelm mit einem Gewehr in der Hand. Die weißen Agas (Eunuchen) vor dem (genannten mittleren) «Tor der Glückseligkeit» empfingen die Ankommenden mit ausgesuchter Höflichkeit. Das Kubbealtı wirkte zerstört und verlassen, erfüllt von Erinnerungen an glanzvolle Epochen, schien es bitter über die Ereignisse der Jahrhunderte zu lachen …
Ich passierte die Bibliothek Sultan Ahmeds III. Ein schwarz gekleideter Diener eilte von der Seite des Tulpengartens herbei. Der Leichenzug näherte sich. Ich ging weiter Richtung Serailspitze. Eine kleine Prozession stieg
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