Istanbul: Ein historischer Stadtführer
«Normaluhr».
Die vier
Kandil
Vier Ereignisse im Leben des Propheten Muhammad – Empfängnis (
Regâib
am 1.
Receb
), Geburt (
Mevlid
11/12.
Rebiyülevvel
), Nächtliche Reise (
Mirâc
26./27
Receb
) und Berufung (
Berâat
15.
Şabân
) – wurden und werden durch abendliche,
Kandil
genannte Feiernächte in den Moscheen begangen.
Kandil
bedeutet «Kerze» und bezieht sich auf die Illuminationen in den heiligen Nächten, zu denen noch die «Nacht des göttlichen Ratschlusses» (
Kâdir Gecesi
, 27. Ramazân), in welcher der Koran herabgesandt wurde, gezählt werden muss.
In der Geburtsnacht wird gern das im frühen 15. Jahrhundert entstandene, in seiner volkstümlichen Sprache weithin noch heute verständliche Gedicht des Süleymân Çelebî rezitiert. Die Schwangerschaft von Muhammads Mutter Amîna (in türkischer Aussprache Emîne Hatun) steht im Mittelpunkt der folgenden Verse:
Emîne Hatun, Muhammads Mutter rein –
Diese Muschel, sie gebar die Perle fein
Als von Abdullâh sie da ein Kind empfing,
Kam die Zeit herbei, und Tag und Stunde ging,
Als das Kommen Muhammads nun nahe war,
Zeigten sich zuvor gar viele Zeichen klar
Jene Nacht des Monats
Rebiyülevvel
,
Jene zwölfte Nacht, die zwölfte Nacht so hell –
Da der Menschen Bester ward geborn allhie
Was sah seine Mutter alles, was sah sie.
Amîna hat die Vision dreier Engel, einer im Osten, einer im Westen, der dritte auf dem Dach der Ka‘ba. Sie bereiteten Amîna ein Lager aus feinstem Brokat und verkündeten:
Ein Sohn wie deiner, solcher Art
Kam zur Welt nicht, seit die Welt erschaffen ward
Einen Sohn wie deinen, herrlich – so wie ihn
Hat der Mächt’ge keiner Mutter noch verliehn
Höchstes Gluck ward dir, o Liebliche, erkor’n,
Daß von dir der Schöngeschaff’ne wird gebor’n
Der da kommt, wird Fürst des Gotteswissens sein,
Der da kommt, wird Einheits-, Kenntnisquelle sein
Seinetwillen drehet sich der Sphären Kreis.
Der Trauertag der iranischen Kolonie
Die zahlreichen Schiiten Istanbuls, heute wie früher in der Mehrheit turkophone Iraner aus Aserbaidschan, begingen den 10.
Muharrem
, den Todestag des Imam Hüseyin in der Schlacht von Kerbela (680), mit einer eindrucksvollen Prozession zu ihrer Hauptmoschee in Üsküdar. Die Moschee am Rand des Friedhofs von Karacaahmet ist ein sorgfältig restauriertes Bauwerk, eingezwängt zwischen einem Containerlager und einem modernen Wohnviertel. Der Journalist Sadri Sema hat Anfang des 20. Jahrhunderts die iranischen Pilger erlebt.
Am zehnten Tag des
Muharrem
veranstalten die Iraner in Istanbul in ihrem Istanbuler Hân (Vâlide Hanı) und ihrer
Tekye
von Karacaahmed im Seyyidahmed-Tal von Üsküdar Tag und Nacht ihr Trauerritual. Am zehnten Tag kamen sie in diesem
Tekye
aus allen Himmelsrichtungen Istanbuls zusammen, einige trafen in Gruppen ein, andere in größeren Mengen, andere eher verstreut. Sie gingen ins Tal von Seyyidahmed, gegen Abend kehrten sie als eine mit schreiend bunten Wimpeln geschmückte Prozession zu ihrem Hân in Istanbul zurück. Dort veranstalteten sie eine Trauernacht, die der Verabschiedung, dem Trennungsschmerz gewidmet war. Ein trauriges Ritual, mehr ein blutiger Abschied, ein tiefer seelischer Schmerz.
An diesem zehnten
Muharrem
war in Üsküdar nicht nur ganz Üsküdar, sondern ganz Istanbul auf den Beinen. Männlein und Weiblein, Kind und Kegel ergossen sich von den Bosporusorten, den Inseln, aus Kadıköy und Istanbul in die Straßen von Üsküdar. Sämtliche Ladenräume, Fenster und Balkone waren vermietet. Auf freien Grundstücken wurden Bänke und Polster bereitgestellt und die Plätze zu fünf oder zehn
Kuruş
verkauft … Die Iraner kamen mit dem ersten Dampfer nach Üsküdar und eilten mit Samowaren für ihren Tee, mit Wasserpfeifen, Teppichen, Wimpeln, Ketten in Händen und auf Schultern Richtung Seyyidahmed-Tal. Dort wurden bis zum Abend Gebeteund Traueroden rezitiert. Die Geistlichen predigten, es wurden Rituale veranstaltet, die Tränen flossen.
Gegen Abend sammelten sie sich, sie ordneten sich diszipliniert in Gruppen an. Eine Trauerprozession, eine von tiefem Schmerz erfüllte Schar, ein von Reue erfüllter Zug entstand. Diese Riesenansammlung, welche sich voller Trauer gegen die Ereignisse von Kerbela auflehnte, war in der Tat voller Schmerz, Verbitterung und Melancholie. Polizei und Gendarmerie stand auf beiden Seiten der Straße bereit, um zu verhindern, dass die Dinge außer Kontrolle gerieten. An der Spitze marschierten, Kreise bildend, die iranischen
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