Italienische Novellen, Band 2
sehen, und hätte gewünscht, ihn zwanzigmal in der Stunde vor Augen zu haben, aber doch nur am Festtage. Um aus diesem Grunde an den Feiertagen nicht von ihren Gespielinnen gestört zu werden, und weil ihr Gerardos Anblick wünschenswerter als das Ballspiel geworden war, fing sie bald unter diesem, bald unter jenem Vorwande an, sich der Gesellschaft der vier Schwestern zu entziehen.
Derweil die Sachen so standen, ging der trostlose Liebhaber eines Tages auf dem Fußwege oder den Fundamenten, wie man in Venedig statt Kai sagt, hin und sah Elenas Amme, die früher die seinige gewesen war, an Elenas Türe pochen und im Begriff, ins Haus zu treten. Er rief ihr wiederholt schon aus der Ferne zu: »Amme, Amme!«
Ihr Pochen an der Tür des Hauses übertäubte aber seine Stimme; es ward aufgemacht, und sie ging hinein. Der junge Mann beeilte sich jedoch, die Amme zu erreichen, ehe sie ins Haus eintrat, und rief sie unausgesetzt. Indem sie nun die Tür hinter sich zumachen wollte und sich umwendete, sah sie Gerardo, der seine Schritte nicht so sehr hatte beschleunigen können, daß er so bald wie sie angekommen wäre. Als sie daher schon die Tür verschließen wollte, hielt sie inne und erwartete den jungen Mann, der gleich darauf herankam. Als er auf der Schwelle der Tür stand, gewahrte er im Hofe Elena, die um häuslicher Verrichtungen willen herabgekommen war. War es nun allzu große Freude über ihre unverhoffte Nähe, oder Erschöpfung, was ihm das Herz beklemmte, oder was sonst, – kurz, er war plötzlich so beengt und bange, daß er halbtot zu Boden sank und so blaß wurde, daß er in der Tat einem Toten gleich sah. Bei diesem unerwarteten kläglichen Anblick fing die Amme wie Elena und eine mit ihr im Hofe anwesende Magd ganz bestürzt und wehklagend an um Hilfe zu rufen. Elena, von ihrer geheimen Neigung hingerissen, warf sich weinend über ihn her; aber die kluge Amme ließ sie sogleich wegnehmen und in ein Zimmer im Halbgeschoß bringen. Dann wandte sie sich zu Gerardo, den sie rieb und rüttelte, beim Namen rief und am Ende, da er kein Lebenszeichen von sich gab, mit Hilfe der Magd in das Haus zog, das sie hinter sich verschloß. Die Amme hatte den ohnmächtigen Jüngling, den sie ja an ihren Brüsten genährt, so zärtlich lieb, daß sie, über seinen Unfall sehr bestürzt, bitterlich zu weinen anfing. Der im Hause gegenwärtige Messer Pietro und andere von der Dienerschaft vernahmen ihren lauten Schmerz und eilten hinab. Messer Pietro wollte von ihr hören, was ihr widerfahren sei, und die Amme erzählte ihm alles ausführlich. Als ein gefälliger und mitleidiger Edelmann befahl er, den Jüngling sanft aufzunehmen, hinaufzutragen und auf ein weiches Bett zu legen, wo dann die väterlichste Pflege zu seiner Unterstützung angewandt wurde. Als er aber sah, daß ihm kein Mittel half, beschloß er, ihn in das Haus des Messer Paolo, seines Vaters, bringen zu lassen. Er wurde in eine Gondel getragen und über den Kanal geführt. Ein verständiger Diener und die Amme mußten Gerardo begleiten und seinem Vater den ganzen Vorfall berichten. Messer Paolo war, als er alles vernommen hatte und den scheintoten Sohn vor sich sah, nahe daran, von seinem äußersten Schmerz übermannt, bewußtlos umzusinken. Eine Vorstellung von den Tränen, die er vergoß, und den Wehklagen, die er ausstieß, mag sich ein jeder Vater machen, der einmal einen zärtlich geliebten Sohn so vor sich sehen mußte. Wiewohl er noch eine bereits verheiratete Tochter hatte, erkannte er doch in Gerardo seinen einzigen Sohn, den er grenzenlos liebte. Zur innigsten Betrübnis des Vaters und der Mutter und aller Hausgenossen ward also der verunglückte Jüngling in seine Kammer gebracht und zu Bette gelegt. Einige Ärzte kamen dazu und ein sehr erfahrener Apotheker, und sie boten ihre ganze Heilkunst auf, die entflohenen Lebensgeister in dem Jüngling zurückzurufen, die ihn ganz zu verlassen strebten. Ihre angestrengten Bemühungen hatten endlich den Erfolg, daß Gerardo allmählich wieder aufzuatmen und zu sich zu kommen anfing. Sobald er die Zunge wieder bewegen konnte, sagte er stammelnd: »Amme, Amme!«
Sie war bei ihm und antwortete: »Hier bin ich, mein Sohn! Was willst du?«
Der Jüngling, der sich noch nicht gänzlich wiedergefunden hatte und in Gedanken immer der Amme nachzulaufen glaubte, rief immer wieder nach ihr. Als er aber wieder zu sich kam und mit der Zeit erkannte, wo er war, und daß Vater und Mutter und Schwester und Schwager,
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