Ivy - Steinerne Wächter (German Edition)
»Ich … oh, huch, ich wollte doch nur … «
Seufzend ließ ihn Lily vom Haken. »Du hast dich ködern lassen. Tyes Vater hatte es von Anfang an auf dich abgesehen. Ich weiß nicht, warum. Als ich ihn das erste Mal getroffen habe, war er bei Weitem nicht so unberechenbar. Furchteinflößend – ja. Irrational – klares Nein.« Dann wechselte sie das Thema, wedelte mit der Hand in der Zelle umher. »Ich nehme nicht an, dass du für so was ausgebildet bist?« Sie versuchte, lässig zu klingen, aber ihre Stimme brach.
»Doch, bin ich.« Er packte einen Stuhl und schmetterte ihn gegen die Wand. Dann suchte er ein Stuhlbein aus dem Trümmerhaufen und schwang ihn wie ein Schwert.
»Was … «, begann Lily.
Klick. Die Tür öffnete sich. Jake holte mit dem Stuhlbein nach der Gestalt aus, die auf der Schwelle erschien und warf sich nach vorne. Die Gestalt machte einen Satz rückwärts, und eine weiche Stimme sagte: »Ich hab diesen Stuhl wirklich gemocht.«
Lily fiel Jake in den Arm. »Nein, Jake, nicht!«
Tye steckte seinen Kopf durch die Tür. »Ist die Luft jetzt rein, oder spielt der blonde Schönling immer noch Baseball?«
Jake hielt das Stuhlbein immer noch wie einen Schläger. »Bleib hinter mir, Lily.«
»Ist schon okay, Jake«, sagte sie, drückte sich an ihm vorbei und warf ihre Arme um Tyes Hals. Der schlang seine fest um ihre Taille. »Du hast uns gefunden? Wie hast du das gemacht?«
»Er ist eben ein schlauer, kleiner Tiger«, mischte sich Jake von hinten ein.
Lily gab Tyes Hals frei. Er ließ sich mit ihrer Taille ein bisschen mehr Zeit. Lily spürte, wie sie rot wurde. Ein Glück, dass sie mit dem Rücken zu Jake stand. Vielleicht hätte sie sich Tye nicht ganz so enthusiastisch in die Arme werfen sollen. Sie kannte ihn ja schließlich kaum. Das Prickeln, das sie jedes Mal spürte, wenn er sie berührte – das war lediglich die Magie oder vielleicht eine starke statische Aufladung und kein Zeichen des Schicksals.
Tye ignorierte Jake und beantwortete stattdessen Lilys Fragen. »Vater sperrt mich gerne hier ein, wenn der Rat mal wieder darüber debattiert, ob ich mich beim letzten Trip in die Menschenwelt angemessen verhalten habe oder nicht. Ich bin nicht gerade ein Fan von so was, also habe ich mir einen überzähligen Schlüssel ausgeliehen.« Er zuckte mit den Schultern. »Schließlich sind wir Schlüssel ja dazu da, Türen zu öffnen.«
»Die Sicherheitsvorkehrungen des Rates sind ja ziemlich lax«, stellte Jake missbilligend fest.
»Du bist herzlich eingeladen hierzubleiben und eine offizielle Beschwerde einzureichen«, spottete Tye und nickte in den Raum. »Das hier ist allerdings keine Gefängniszelle; es ist ein Warteraum. Wenn der Rat eine echte Bedrohung in dir sehen würde, hätten sie dich wesentlich sicherer untergebracht. Schätze, man hat dich als harmlos eingestuft, Schönling. Glückwunsch.«
»Ich werd dir gleich mal zeigen, wer hier ›harmlos‹ ist.«
Lily warf einen Blick hinüber zur Treppe. Jeden Augenblick konnte der Steinmann wieder heruntergetrampelt kommen und sie alle in eine richtige Zelle werfen. »Jungs, können wir das nicht alles besprechen, nachdem wir hier raus sind?«
Tye machte eine vollendete Verbeugung. »Wie die Dame meines Herzens wünscht.« Er winkelte den Arm an und hakte Lily bei sich ein, als wolle er sie zum Tanz führen. Dann marschierte er den Flur hinunter. Sie musste fast rennen, um mit ihm Schritt zu halten. Ihr fiel auf, dass die Muskeln seiner Arme zum Zerreißen gespannt waren. Innerlich war er nicht annähernd so cool und beherrscht, wie er vorgab.
Jake folgte in einigem Abstand. »Warum hilfst du uns?«
»Ich helfe Lily «, stellte Tye klar. »Wer bist du überhaupt?«
»Ihr Beschützer.«
»Echt gute Arbeit.«
»Du kannst ihm nicht trauen«, sagte Jake zu Lily. »Er hat sich geweigert, Vineyard Gefolgschaft zu schwören. Er hat nicht unser Training durchlaufen. Allen Auszubildenden wird eingeschärft, Distanz zu wahren. Er ist ein Joker. Nach allem, was wir wissen, könnte es genauso gut sein, dass er uns in eine Falle führt.«
Angesichts der Tatsache, dass Tye sie beide eben befreit hatte, fiel es Lily schwer, sich mit dieser Darstellung anzufreunden. »Er hat mich bloß ein- oder zweimal angeschwindelt«, wiegelte sie ab.
»Wo du’s gemerkt hast«, ergänzte Tye heiter. Er lehnte sich mit der Schulter gegen eine Tür. Sie sprang auf, und er trat über die Schwelle.
»Sag uns, warum du ständig die Seiten wechselst«,
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