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Jack Holborn unter den Freibeutern

Jack Holborn unter den Freibeutern

Titel: Jack Holborn unter den Freibeutern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Garfield
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weiterhin kräftig,
    und unter reichlich gesetzter Leinwand machten wir
    gute Fahrt.
    Der Fremde erwärmte sich zusehends, als die Stun-
    den nach Weymouth abnahmen und sich über die
    ganze Lady Jane eine Abschiedsstimmung senkte.
    Er fragte mich, was ich täte, wo ich lebte, mit wem 210
    ich reiste und ob ich eine Mahlzeit mit ihm teilen
    würde, wenn wir an Land kämen.
    »Frage deine Gefährten«, drängte er mich. »Frage
    sie, ob sie dich eine oder zwei Stunden entbehren
    können.«
    »Das will ich tun, Sir«, sagte ich, ungeheuer ge-
    schmeichelt von seiner Aufmerksamkeit. »Ich werde
    sie gleich fragen.«
    Denn ich hatte gerade, sehr gelegen, Mister Trum-
    pet und »Mister Rogers« zum ersten Mal an jenem
    Tag auf dem Halbdeck gesehen.
    »Das sind sie da drüben – an der Reling – wollen
    Sie –?« Ich unterbrach mich in plötzlichem Schmerz
    und in Verwunderung – mein Handgelenk! Er hatte
    mein Handgelenk gepackt, und mit einem Griff, der
    es beinahe entzweibrach.
    »Was ist das für ein Mann?«
    »Mein Handgelenk, Sir – mein Handgelenk –«
    »Was – ist – das – für – ein – Mann?«
    »Wer? Welcher Mann?«
    »Der kleine. Der grauhaarige – der Mann mit dem
    Stock mit dem goldenen Knauf.«
    »Mister Rogers. Das ist Mister Rogers.«
    Er ließ mein Handgelenk los und schritt unsicher
    zum Bug der Lady Jane. Und dort blieb er, in ein
    ungewöhnliches Schweigen gehüllt. Er sprach weder
    zu mir noch einer anderen Seele an Bord und blieb
    still wie ein Fels, trotz Nebel, trotz Dämmerung, ja sogar trotz Weymouth. Dann gingen wir und die
    ganze Schiffsbesatzung an Land.
    211
    Ich fragte Mister Trumpet, ob er den Fremden
    schon einmal gesehen hätte. »Nie«, sagte er. »Nie in allen meinen Tagen.« Aber Mister Trumpet war so in
    sein künftiges Leben der Muße und des Reichtums
    vertieft, daß er’s nicht gemerkt hätte, wenn der
    Fremde sein eigener Bruder gewesen wäre.
    Ich fragte »Mister Rogers« und kriegte nicht mehr
    als »nicht seinem sicheren Wissen nach … vielleicht ein Irrtum: gestörte Sicht … hat ihn für einen anderen gehalten … schwindendes Licht gaukelt etwas vor …
    überspannt. Nein … nein … nie vorher gesehen …«
    Dann gelangten wir etwa um acht Uhr am nebligen
    Abend des 25. November in den Hafen von Wey-
    mouth. Zehn Minuten danach waren wir an Land.
    Zurück in schmutzigem Nebel und der stinkenden
    Luft und klapperten wieder einmal auf dem Kopf
    Steinpflaster. (Mein Gott! Das war ein gutes Gefühl.
    Und ich war einmal davongerannt, um ihm zu entge-
    hen. Jack Holborn? Nun, nicht ganz derselbe Jack
    Holborn, der davonging.)
    Dann sah ich ihn wieder: groß und abweisend in
    dem fließenden Nebel. Sein einsames Auge starrte
    »Mister Rogers« an. Er drehte sich abrupt um und
    verschwand in der belebten Nacht.
    XXI
    Wir fanden für diese Nacht Unterkunft im schäbigen
    »Nordstern« in der Watergate Street, und dort er-
    212
    klärte Mister Trumpet, wir müßten alle am Morgen
    die Postkutsche nach London nehmen.
    »Dann bleiben wir also zusammen?« fragte »Mi-
    ster Rogers« ein wenig überrascht.
    »Bis London – bis London. Das ist unser Zentrum.
    Das ist das Herz unserer Welt. Da haben wir alle angefangen: da müssen wir alle enden.«
    »Enden?«
    »Unsere Bekanntschaft. Abschied nehmen. Uns
    trennen. Auseinandergehen. Sie nach London, ›Mister Rogers‹, um Ihr Leben wiederaufzunehmen, um seine
    Löcher zu stopfen, es aufzuschönen, wo es faden-
    scheinig geworden ist, es zu beleben, wo’s verfault ist.
    Ich nach London, der Geschäfte wegen –« Er lächel-
    te, und ich sah, daß er eine Weile in Träume versank, wie er alte Freunde überraschte und alte Feinde er-staunte, wie er teure Juwelen vor aufgerissenen Au-
    gen glitzern ließ – wie Salomon in die eigene Trompe-te stieß.
    »Ja … geschäftehalber. Und Jack –«
    »Was ist mit Jack?«
    (Das war nicht ich, der fragte, sondern »Mister
    Rogers«. Scharf. Besorgt. Besorgt um einen Jungen,
    der in London losgelassen war.)
    »Jack nach London, weil er –«
    »Weil er ein Londoner Jung’ ist!« Das war lach-
    haft, und ich erwartete, daß er wieder sagen würde
    »Nichts ist mir lieb wie ein Lond’ner Jung.« Aber das tat er nicht, und man ließ es dabei. Ich nach London, weil ich ein Lond’ner Jung’ war. Ein ausreichender
    213
    Grund. Jede Maus in ihr Loch, jeder Schorf auf seine Wunde, jede Leiche in ihr Grab.
    Um halb elf gingen wir hinauf in unser Bett; ein
    Zimmer für uns drei. Obwohl

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