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Jack Holborn unter den Freibeutern

Jack Holborn unter den Freibeutern

Titel: Jack Holborn unter den Freibeutern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Garfield
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Schuldigkeit an mich abzutragen (er wisse recht wohl, was das wäre) oder solange warten, bis die Vor-sehung uns die Chance einräumte, auf ewig miteinan-
    der abzurechnen. Und diese Chance, hoffte ich, wer-
    de nicht lange auf sich warten lassen.
    Drei Wochen später, an einem kalten Novembertag,
    an dem der Nebel des Ärmelkanals durch die Takelage zog und die Masten einhüllte, erreichten wir St. Peter-port: und da kam dann der Fremde an Bord.
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    Gegen Abend segelten wir in den dunklen, sehr ge-
    heimnisvoll aussehenden Hafen, und die alten grauen Wellen leckten und knufften die Lady Jane an den
    tiefen Planken. Sehr kalt war es an Deck und trübe in den Kajüten. Nur Kapitän Farmer ging an Land. Er
    blieb etwa zwei Stunden und kam mit einem Passa-
    gier zurück, der nach Weymouth wollte: einem gro-
    ßen, eingemummelten Mann, der mit einem schwin-
    genden Rollen ging und um den Hauptmast herum-
    schwenkte, als sei er lebendig.
    Zuerst dachte ich, er sei ein schwermütiger Irrer,
    der da vorne am Fockmast stand und sich nicht regte: manchmal von Nebelschwaden ausgelöscht, dann
    wieder kompakt und so still und seltsam wie zuvor.
    Er sprach, nickte und winkte keinem Lebewesen zu,
    sondern starrte und starrte nur über das Meer …
    Dann drehte er sich plötzlich um, und ich bemerk-
    te, daß er eine braune Klappe trug, die ein zerstörtes Auge bedeckte und ein Stück einer Wunde, die sich
    über das ganze Gesicht zog von der Braue bis zum
    Kinnbacken – und die seine Sehkraft beeinträchtigt
    haben mußte. An derselben Seite, seiner Linken, hing auch ein Ärmel, der von der Schulter abwärts leer
    war. Der Arm war ihm abgetrennt.
    Kurz darauf besserte sich das Wetter, und die Son-
    ne kam hervor: obwohl es mehr das Gemälde einer
    Sonne war – nur Licht und keine Wärme –, während
    der Wind kalt war wie ein Messer.
    »Kennst du dort die grauen Damen, Junge?« rief
    ein schottischer Kanonier plötzlich aus. Er deutete, 208
    und ich sah aus dem halb-goldenen Dunst voraus an
    der Steuerbordseite mehrere hohe graue Felsen her-
    vorkriechen, die schlurfenden und einander zunik-
    kenden Nonnen auffallend ähnlich sahen.
    »Wie viele erkennst du?«
    »Sieben«, sagte ich nach genauem Hinsehen, denn
    die letzten zwei ragten kaum aus dem Wasser.
    »Dann kannst du dankbar sein. Wenn da nur fünf
    wären, dann hätte es bedeutet, daß zwei nach unten
    gegangen sind, um uns das Grab zu bereiten.«
    Ich muß ungläubig ausgesehen haben, denn er
    drohte mir mit dem Finger und sagte: »Wenn es fünf
    wären, wären wir verloren. Glaub mir, Junge. Glaub
    mir.«
    Dann sagte eine fremde Stimme: »Es ist eine Ange-
    legenheit von Winkeln und Sehfeld, mein Sohn.
    Wenn die beiden letzten Felsen verborgen sind, dann fährt das Schiff direkt auf die Riffe zu und wird bestimmt scheitern. Wenn man nämlich so dicht ist,
    daß man sie zählen kann, ist man zu dicht, um abzu-
    drehen.«
    Das waren die ersten Worte, die ich den einarmi-
    gen Fremden sprechen hörte, und seine Stimme war
    jedenfalls angenehmer als sein Aussehen. Und doch
    hatte es damit etwas auf sich, was mir bekannt
    schien …
    Das verwirrte mich lange Zeit, bis ich zu dem
    Schluß kam, daß es sein Akzent war, der mich an ir-
    gend jemanden von der Charming Molly erinnerte.
    An wen konnte ich mich jedoch nicht entsinnen.
    209
    Nachdem ich ihn nun einmal gehört und sein eines
    Auge sich erweichen und zwinkern gesehen hatte,
    dachte ich anders von ihm und schätzte ihn wegen
    der Art, in der er mit mir sprach und mir so manches vom Meer und dem Wetter erzählte. (Ja, er erinnerte sich an den großen Sturm vor einigen Monaten, mit
    der Wolke am Himmel wie ein Tiger. Manche sagten,
    es hätte damals Erdbeben in London gegeben, die
    dem entsprachen.)
    Hin und wieder, wenn ich ihm näherkam, um seine
    Worte besser zu verstehen, zuckte er vor mir zurück.
    Daher wußte ich, daß seine Wunde noch frisch und
    der Stumpf noch empfindlich war.
    Wie lange lag es wohl zurück, sein Mißgeschick?
    Lange genug, um mit seiner einen Hand mächtig ge-
    schickt zu sein, aber noch nicht lange genug, um ihm das verlorene Auge zu ersetzen. Deutlich sichtbare
    Gegenstände mußte er in einem weiten Bogen umge-
    hen, und oft schien er auf seiner blinden Seite Dinge zu sehen, die überhaupt nicht da waren, während er
    andere überhaupt nicht wahrnahm …
    Am späten Nachmittag war es sicher, daß wir
    Weymouth bei Einbruch der Nacht erreichen wür-
    den, denn der Rückenwind blieb

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