Jack Holborn unter den Freibeutern
Schuldigkeit an mich abzutragen (er wisse recht wohl, was das wäre) oder solange warten, bis die Vor-sehung uns die Chance einräumte, auf ewig miteinan-
der abzurechnen. Und diese Chance, hoffte ich, wer-
de nicht lange auf sich warten lassen.
Drei Wochen später, an einem kalten Novembertag,
an dem der Nebel des Ärmelkanals durch die Takelage zog und die Masten einhüllte, erreichten wir St. Peter-port: und da kam dann der Fremde an Bord.
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Gegen Abend segelten wir in den dunklen, sehr ge-
heimnisvoll aussehenden Hafen, und die alten grauen Wellen leckten und knufften die Lady Jane an den
tiefen Planken. Sehr kalt war es an Deck und trübe in den Kajüten. Nur Kapitän Farmer ging an Land. Er
blieb etwa zwei Stunden und kam mit einem Passa-
gier zurück, der nach Weymouth wollte: einem gro-
ßen, eingemummelten Mann, der mit einem schwin-
genden Rollen ging und um den Hauptmast herum-
schwenkte, als sei er lebendig.
Zuerst dachte ich, er sei ein schwermütiger Irrer,
der da vorne am Fockmast stand und sich nicht regte: manchmal von Nebelschwaden ausgelöscht, dann
wieder kompakt und so still und seltsam wie zuvor.
Er sprach, nickte und winkte keinem Lebewesen zu,
sondern starrte und starrte nur über das Meer …
Dann drehte er sich plötzlich um, und ich bemerk-
te, daß er eine braune Klappe trug, die ein zerstörtes Auge bedeckte und ein Stück einer Wunde, die sich
über das ganze Gesicht zog von der Braue bis zum
Kinnbacken – und die seine Sehkraft beeinträchtigt
haben mußte. An derselben Seite, seiner Linken, hing auch ein Ärmel, der von der Schulter abwärts leer
war. Der Arm war ihm abgetrennt.
Kurz darauf besserte sich das Wetter, und die Son-
ne kam hervor: obwohl es mehr das Gemälde einer
Sonne war – nur Licht und keine Wärme –, während
der Wind kalt war wie ein Messer.
»Kennst du dort die grauen Damen, Junge?« rief
ein schottischer Kanonier plötzlich aus. Er deutete, 208
und ich sah aus dem halb-goldenen Dunst voraus an
der Steuerbordseite mehrere hohe graue Felsen her-
vorkriechen, die schlurfenden und einander zunik-
kenden Nonnen auffallend ähnlich sahen.
»Wie viele erkennst du?«
»Sieben«, sagte ich nach genauem Hinsehen, denn
die letzten zwei ragten kaum aus dem Wasser.
»Dann kannst du dankbar sein. Wenn da nur fünf
wären, dann hätte es bedeutet, daß zwei nach unten
gegangen sind, um uns das Grab zu bereiten.«
Ich muß ungläubig ausgesehen haben, denn er
drohte mir mit dem Finger und sagte: »Wenn es fünf
wären, wären wir verloren. Glaub mir, Junge. Glaub
mir.«
Dann sagte eine fremde Stimme: »Es ist eine Ange-
legenheit von Winkeln und Sehfeld, mein Sohn.
Wenn die beiden letzten Felsen verborgen sind, dann fährt das Schiff direkt auf die Riffe zu und wird bestimmt scheitern. Wenn man nämlich so dicht ist,
daß man sie zählen kann, ist man zu dicht, um abzu-
drehen.«
Das waren die ersten Worte, die ich den einarmi-
gen Fremden sprechen hörte, und seine Stimme war
jedenfalls angenehmer als sein Aussehen. Und doch
hatte es damit etwas auf sich, was mir bekannt
schien …
Das verwirrte mich lange Zeit, bis ich zu dem
Schluß kam, daß es sein Akzent war, der mich an ir-
gend jemanden von der Charming Molly erinnerte.
An wen konnte ich mich jedoch nicht entsinnen.
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Nachdem ich ihn nun einmal gehört und sein eines
Auge sich erweichen und zwinkern gesehen hatte,
dachte ich anders von ihm und schätzte ihn wegen
der Art, in der er mit mir sprach und mir so manches vom Meer und dem Wetter erzählte. (Ja, er erinnerte sich an den großen Sturm vor einigen Monaten, mit
der Wolke am Himmel wie ein Tiger. Manche sagten,
es hätte damals Erdbeben in London gegeben, die
dem entsprachen.)
Hin und wieder, wenn ich ihm näherkam, um seine
Worte besser zu verstehen, zuckte er vor mir zurück.
Daher wußte ich, daß seine Wunde noch frisch und
der Stumpf noch empfindlich war.
Wie lange lag es wohl zurück, sein Mißgeschick?
Lange genug, um mit seiner einen Hand mächtig ge-
schickt zu sein, aber noch nicht lange genug, um ihm das verlorene Auge zu ersetzen. Deutlich sichtbare
Gegenstände mußte er in einem weiten Bogen umge-
hen, und oft schien er auf seiner blinden Seite Dinge zu sehen, die überhaupt nicht da waren, während er
andere überhaupt nicht wahrnahm …
Am späten Nachmittag war es sicher, daß wir
Weymouth bei Einbruch der Nacht erreichen wür-
den, denn der Rückenwind blieb
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