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Jack Holborn unter den Freibeutern

Jack Holborn unter den Freibeutern

Titel: Jack Holborn unter den Freibeutern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Garfield
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wir für den unabhän-
    gigen Hafen N-. gut genug gekleidet waren, waren
    wir für Weymouth ziemlich klägliche Fische: nicht
    einmal eine Zierde für den schäbigen »Nordstern«.
    Wie abgerissen selbst Mister Trumpet aussah …
    Mister Trumpet und »Mister Rogers« schliefen
    ohne weiteres ein, aber das Knarren und Schlagen einer Kirchenglocke hielt mich wach.
    Gegen Mitternacht stieg ich aus dem Bett und ging
    zum Fenster. Der Nebel hatte sich verzogen, und die lange Straße lag unter dem wankenden Mond.
    Irgendwie hatte ich geahnt, was ich sehen würde,
    aber als ich es sah, versetzte es mir doch einen mächtigen Schock.
    Gegenüber, das eine Auge starr nach oben gerich-
    tet, stand der verkrüppelte Fremde. Einen Augenblick trafen sich unsere Blicke: meiner erstaunt, seiner bos-haft triumphierend. Dann drehte er sich um und eilte davon. Er hatte uns entdeckt.
    Ich glaube nicht, daß ich überhaupt daran dachte,
    meine Gefährten zu warnen. Statt dessen zog ich
    mich rasch an und schlich hinaus auf die kalte, stille Straße.
    Es kam mir so vor, als hätten der Fremde und ich
    etwas miteinander auszuhandeln. Wir hatten ein ge-
    meinsames Interesse. Einen »Mister Rogers«.
    Er ging schnell und unbeirrt mit schwingenden,
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    rollenden Schritten – etwas unbalanciert wegen seines fehlenden linken Armes. Er sah nicht zurück und
    rannte mehrere Male gegen Betrunkene, die ihm in
    den Weg taumelten. Zwei Karrenschieber machten
    ihn beinahe fertig, als er einen Platz überqueren wollte: tanzten hierhin und dahin – höflich – ärgerlich, ließen ihn dann lachend vorbei, und er ging auf und davon, schnell, schnell! Als sei ihm der Teufel auf den klapp-klappernden Fersen.
    Ich folgte ihm zu einem quadratisch gebauten, mo-
    dernen Gebäude, das auf einem kleinen sauberen Ge-
    lände stand, nicht weit von der Hafenfront, mit guten Fenstern und einer reinlichen Tür. Ich hatte etwas
    anderes erwartet, etwas von der Art einer stinkenden Bierkneipe.
    Aber was ich durch das geöffnete Fenster hörte
    (denn der alte Mann mit Haarbeutel, der dort wohn-
    te, rauchte eine lange Pfeife, die den Fremden halb zum Ersticken brachte, bis er grollend trotz der kalten Nacht ein Fenster öffnete) stank genügend zum
    Himmel.
    Ich hörte jetzt eine Geschichte von Meeressturm
    und Schiffbruch und von einem guten Schiff, das von Erbarmen bemannt und Mitleid getakelt war und den
    armen Schiffbrüchigen zu Hilfe eilte.
    All dies klang mir, der ich draußen kauerte, halb
    vertraut. Dann ging die Geschichte in der bald ruhigen, bald bebenden Stimme des Fremden weiter, und
    kam der Zeit, in der ich hineingetragen wurde, immer näher.
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    »Nein, du großer Gott!« schrie er wieder – genau
    wie ich ihn schon einmal schreien hörte – (drum war mir die Stimme so bekannt vorgekommen!), und Taplow, Clarke, der Holländer, der schmierige Pobjoy, die furchtbaren Brüder Fox, und der adrette, kalte
    Mister Morris selbst kamen zum Leben. Nur war das
    ein Leben, das ich nicht gesehen hatte.
    Einer nach dem mordgierigen anderen kamen sie
    über die Seite geklettert – (Mittschiffs, Steuerbordseite) – dieser ersten feinen Charming Molly. Und ei-
    nen nach dem anderen beschrieb sie der Fremde – ge-
    nau – in der Art eines Mannes, der seitdem an nichts anderes mehr gedacht hat.
    »Und dann? Und dann?« fragte der alte Mann.
    »Ja, dann machten sie sich an die Arbeit.«
    Ich hörte, bibbernd vor Kälte, zu, wie der Fremde
    weitererzählte. Pobjoy, Hughes Clarke, Suckling und der Rest waren böse Menschen, das wußte ich, aber
    ich hatte so lange mit ihnen gelebt, und sie hatten so leicht in meinen Gedanken gelebt, daß ich sie nie für schlimmer hielt als für faule, gotteslästerliche Aasjä-
    ger: Burschen, die manchmal fluchten und lachten
    und spuck ten und schnarchten und sich kratzten und die Sonne liebten, außer wenn sie zu heiß wurde.
    Nun sah ich sie wieder, als sie sich anschickten, an jenem Tag die Mannschaft und die sieben Passagiere
    an Bord der Charming Molly zu ermorden. Sie wa-
    ren wie entfesselte, schwitzende, wilde Tiere, bis das Hacken und Schlitzen und Metzeln ihre Arme ermü-
    dete.
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    »Und dieser – dieser ›Mister Rogers‹ sagen Sie, hat sie befehligt? Er war im Getümmel?«
    »Er kam an Bord, als das Schlimmste vorbei war.
    Er war es, der die vier noch am Leben befindlichen
    weiblichen Passagiere niederschoß. Stellte sie gegen die Steuerbordreling und schoß jeder aus sechs Schritt Entfernung eine Kugel

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