Jack McEvoy 05 - Unbekannt verzogen
kann durchaus sagen, sie hat zuerst mich aufgegeben.«
»Wann war das?«
»Schwer zu sagen, Clyde. Es hat sich einige Zeit hingezogen. Wie in Zeitlupe. Aber vor zwei Wochen hat es dann richtig gekracht. Sie hat sich bereit erklärt, bis heute zu bleiben. Heute war ihr letzter Tag. Ich weiß, Sie haben mich bei Ihrer Einstellung vor einer Beziehung mit einer Mitarbeiterin gewarnt. Wahrscheinlich hatten Sie Recht.«
Vernon kam einen Schritt näher auf Pierce zu.
»Warum habe ich davon nichts erfahren?«, schimpfte er. »Das hätte ich wissen müssen.«
Pierce konnte sehen, wie die Farbe in Vernons Wangen höher stieg. Er war wütend und rang um Beherrschung. Dabei ging es ihm nicht so sehr um Nicole als um sein Bestreben, seine Position innerhalb der Firma zu festigen. Schließlich hatte er beim FBI nicht nach so vielen Jahren aufgehört, damit ihn ein ausgeflippter Wissenschaftlerboss, der wahrscheinlich an den Wochenenden kiffte, über wichtige innerbetriebliche Vorgänge im Dunkeln ließ.
»Mir ist durchaus klar, dass Sie hätten informiert werden sollen, aber da es sich hier um eine persönliche Angelegenheit handelte, habe ich … ich hatte einfach keine Lust, darüber zu sprechen. Und um ganz ehrlich zu sein, hätte ich Sie wahrscheinlich auch heute Abend nicht angerufen, weil ich immer noch nicht darüber sprechen will.«
»Aber wir müssen darüber sprechen. Sie war die Leiterin des betriebseigenen Nachrichtendienstes. Man hätte ihr nicht gestatten dürfen, an ihrem letzten Arbeitstag einfach so zur Tür rauszugehen.«
»Alle Akten sind noch da. Ich habe es nachgeprüft, obwohl es nicht nötig gewesen wäre. Nicki würde nie etwas tun, was Sie vielleicht denken.«
»Ich denke dabei gar nicht an irgendwelche konkreten Verstöße, Ich bemühe mich nur, gründlich und vorsichtig zu sein. Mehr nicht. Hat sie bereits eine andere Stelle angenommen?«
»Als wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben, noch nicht. Außerdem hat sie sich bei ihrer Einstellung verpflichtet, hinterher nicht zu einem Konkurrenzunternehmen zu gehen. Deswegen müssen wir uns wirklich keine Sorgen machen, Clyde.«
»Das glauben Sie. Wie wurde die Auflösung des Arbeitsverhältnisses finanziell geregelt?«
»Warum sollte das Sie etwas angehen?«
»Weil jemand, der dringend Geld braucht, korrumpierbar ist. Es ist meine Aufgabe, darüber informiert zu sein, ob ein ehemaliger oder gegenwärtiger Mitarbeiter, der in allen Einzelheiten über das Projekt Bescheid weiß, korrumpierbar ist.«
Langsam begann sich Pierce über Vernons penetrante und herablassende Art zu ärgern, obwohl er sich gegenüber dem Chef des Sicherheitsdienstes Tag für Tag genauso verhielt.
»Zuallererst, ihr Wissen über das Projekt war begrenzt. Sie hat Informationen über die Konkurrenz gesammelt, nicht über uns. Um das tun zu können, musste sie natürlich eine grobe Vorstellung von dem haben, was wir hier unten tun. Aber ich glaube nicht, dass sie sich ein genaueres Bild davon machen konnte, was wir hier tun oder wo wir mit unseren Projekten stehen. Genau so, wie auch Sie das nicht wissen, Clyde. Es ist sicherer so.
Und zweitens – ich werde Ihre nächste Frage beantworten, bevor Sie sie stellen. Nein, auch privat habe ich ihr nicht genauer erzählt, was wir hier tun. Darüber haben wir nie gesprochen. Wenn Sie’s genau wissen wollen – ich glaube, es hat sie auch gar nicht interessiert. Für sie war der Job einfach ein Job, und das war wahrscheinlich unser Hauptproblem. Für mich war der Job nicht bloß ein Job. Für mich war er mein Leben. Haben Sie sonst noch Fragen, Clyde? Ich habe nämlich noch zu tun.«
Er hoffte, die eine Lüge an Vernon vorbeischmuggeln zu können, indem er sie hinter Wortgeklingel und Entrüstung versteckte.
»Wann hat Charlie Condon davon erfahren?«, fragte Vernon.
Condon war der Finanzchef der Firma, und er war, was wichtiger war, derjenige, der Vernon direkt eingestellt hatte.
»Wir haben es ihm gestern mitgeteilt«, antwortete Pierce. »Gemeinsam. Ich bekam mit, dass sie sich noch einen Termin bei ihm hatte geben lassen, bevor sie gestern endgültig ging. Wenn Charlie es Ihnen nicht erzählt hat, dann kann ich leider nichts daran ändern. Wahrscheinlich hielt er es auch nicht für nötig.«
Das war ein Schuss vor den Bug, um Vernon vor Augen zu halten, dass er von seinem eigenen Gönner außen vor gelassen worden war. Aber der ehemalige FBI-Mann schüttelte es mit einem kurzen Stirnrunzeln ab und fuhr fort:
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