Jack McEvoy 05 - Unbekannt verzogen
schließlich alle auf uns, oder nicht?«
Um abzuschätzen, ob das sarkastisch gemeint war oder nicht, blickte Vernon mit einer hochgezogenen Augenbraue von seinem Notizbuch auf.
»Sicher«, sagte er. »Dann will ich Sie mal nicht länger von der Arbeit abhalten.«
Sobald sich der Sicherheitschef durch die Schleuse entfernt hatte, wurde Pierce erneut bewusst, dass er nicht an die Arbeit zurückkehren könnte. Eine Trägheit hatte eingesetzt. Zum ersten Mal seit drei Jahren war er nicht von außerhalb des Labors liegenden Interessen belastet und frei, seine Arbeit zu machen. Aber zum ersten Mal seit drei Jahren wollte er das nicht.
Er machte den Computer aus und stand auf. Er folgte Vernon durch die Schleuse.
4
Als Pierce in sein Büro zurückkehrte, machte er das Licht von Hand an. Der Stimmerkennungsschalter war Schnickschnack, und das wusste er. Etwas, das eingebaut worden war, um bei den potenziellen Investoren, die Charlie Condon alle paar Wochen durch den Betrieb führte, Eindruck zu schinden. Es war eine Spielerei. Genau wie die Überwachungskameras und Vernon. Aber Charlie meinte, das sei alles nötig. Es verdeutliche die Brisanz ihrer Forschungsarbeit. Er meinte, es helfe Investoren, sich ein Bild von den Projekten und vom Stellenwert des Unternehmens zu machen. Es verleihe ihnen ein gutes Gefühl, wenn sie einen Scheck ausstellten.
Allerdings hatte es zur Folge, dass Pierce die Büros manchmal genauso seelenlos erschienen, wie sie technisch auf dem neuesten Stand waren. Angefangen hatte er mit der Firma in einem Lagerhaus in Westchester. Dort war zwar die Miete günstig gewesen, aber er hatte die Ergebnisse seiner Experimente zwischen Starts und Landungen auf dem LAX ablesen müssen. Er hatte keine Angestellten gehabt. Inzwischen hatte er so viele, dass er einen Angestellten für den Personalbereich brauchte. Damals hatte er einen verbeulten Käfer gefahren – das alte Modell. Jetzt fuhr er einen BMW. Es stand völlig außer Frage, er und Amedeo hatten es weit gebracht. Aber er ertappte sich dabei, dass er immer häufiger an dieses Lagerhauslabor zurückdachte, das ganz unter dem Zeichen der Starts und Landungen auf Runway siebzehn stand. Sein Freund Cody Zeller, immer auf der Suche nach cineastischen Parallelen, hatte mal gesagt, »Runway siebzehn« würde sein »Rosebud«, die letzten Worte, die über seine sterbenden Lippen kämen. Ungeachtet anderer Übereinstimmungen mit Citizen Kane hielt Pierce es nicht für ausgeschlossen, dass Zeller in diesem Punkt Recht behalten könnte.
Pierce setzte sich an seinen Schreibtisch und überlegte, ob er Zeller anrufen und ihm sagen sollte, er hätte doch noch Lust bekommen, mit ihm wegzugehen. Er überlegte auch, ob er im Amalfi Drive anrufen sollte, ob Nicole vielleicht reden wollte. Ihm war allerdings klar, dass er das nicht durfte. Diesen Schritt musste sie machen, und ihm blieb nichts anderes übrig, als zu warten – selbst wenn es nie dazu kam.
Er holte den Block aus seinem Rucksack und wählte die Fernabfragenummer seiner Mailbox. Er gab das Passwort ein und bekam von einer elektronischen Stimme mitgeteilt, dass er eine neue Nachricht hatte. Als er sie abrief, hörte er die nervöse Stimme eines fremden Mannes.
»Ähm, ja, hallo, hier ist Frank. Ich wollte eigentlich Lilly sprechen. Ich habe diese Nummer aus dem Internet, und ich wollte nur mal sehen, ob du heute Abend frei bist. Ich weiß, es ist schon spät, aber ich dachte, ich probier’s trotzdem mal. Hier ist jedenfalls Frank Behmer, Zimmer 612 im Peninsula. Ruf mich doch bitte an, wenn du kannst.«
Pierce löschte die Nachricht, verspürte aber wieder den seltsamen Kitzel, in der geheimen Welt von jemand anderem zu sein. Er überlegte eine Weile und rief schließlich die Auskunft an, um sich die Nummer des Peninsula in Beverly Hills geben zu lassen. Vor lauter Aufregung hatte Frank Behmer keine Nummer hinterlassen, unter der er zurückgerufen werden konnte.
Pierce rief im Hotel an und verlangte Behmer in Zimmer 612. Nach dem fünften Läuten wurde abgenommen.
»Hallo?«
»Mr. Behmer?«
»Ja?«
»Hallo. Haben Sie wegen Lilly angerufen?«
Behmer zögerte, bevor er antwortete.
»Wer ist bitte am Apparat?«
Pierce zögerte nicht. Er hatte mit der Frage gerechnet.
»Ich bin Hank. Ich kümmere mich um Lillys Anrufe. Sie ist im Moment ziemlich beschäftigt, aber ich versuche, sie zu erreichen. Um was für Sie zu arrangieren.«
»Ja, ich habe es auch
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