Jack McEvoy 05 - Unbekannt verzogen
zweitausend Tests durchgeführt. Die chemisch hergestellten Weichen waren einfache On/Off-Schalter, die möglicherweise eines Tages für den Bau von Computerschaltkreisen verwendet würden.
Pierce lehnte sich in den Computerstuhl zurück. Er sah eine halb volle Tasse Kaffee neben dem Monitor stehen. Sie musste Larraby gehören, weil der Kaffee darin schwarz war. Bis auf den Immunologen des Proteus-Projekts tranken ihn alle im Labor mit Milch.
Während Pierce überlegte, ob er mit den Schaltertests fortfahren oder ins Bildgebungslabor gehen und sich Larrabys jüngste Arbeiten an Proteus ansehen sollte, wanderte sein Blick zu der Wand hinter den Computern hoch. Dort war mit Klebstreifen ein Zehncentstück befestigt. Es war Grooms gewesen, der es dort vor einigen Jahren angebracht hatte. Sicher, es war ein Witz, aber die Münze führte ihnen auch ihr Ziel vor Augen. Manchmal schien sie sich über sie lustig zu machen. Roosevelt, der ihnen das Profil zukehrte, von ihnen wegschaute, sie nicht beachtete.
Erst in diesem Moment wurde Pierce klar, dass er an diesem Abend nicht mehr würde arbeiten können. Er hatte so viele Abende damit verbracht, sich im Labor zu verkriechen und zu arbeiten, dass es ihn Nicole gekostet hatte. Das und andere Dinge. Jetzt, wo sie sich von ihm getrennt hatte, stand es ihm frei, nach Lust und Laune und ohne schlechtes Gewissen zu arbeiten, und er merkte plötzlich, dass er es nicht konnte. Falls er je wieder mit ihr sprechen sollte, würde er ihr das erzählen. Vielleicht bedeutete es, dass er sich änderte. Vielleicht bedeutete es ihr etwas.
Plötzlich ertönte hinter ihm ein lautes Scheppern, das ihn in seinem Sessel zusammenfahren ließ. Als er sich in der Annahme umdrehte, Grooms käme zurück, sah er stattdessen Clyde Vernon durch die Schleuse kommen. Vernon war ein breiter, stämmiger Mann mit einem schmalen Haarkranz um den Hinterkopf. Seine von Natur aus rote Gesichtsfarbe verlieh ihm einen Ausdruck ständiger Bestürzung. Mit Mitte fünfzig war Vernon mit Abstand der älteste Mitarbeiter der Firma. Nach ihm kam wahrscheinlich Charlie Condon mit seinen vierzig Jahren.
Diesmal war die Bestürzung in Vernons Miene echt.
»Mensch, Clyde, haben Sie mir einen Schrecken eingejagt«, sagte Pierce.
»Das wollte ich nicht.«
»Wir führen hier eine Menge hochempfindliche Messungen durch. So mit der Tür zu schlagen könnte ein Experiment ruinieren. Zum Glück habe ich mir gerade nur Experimente angesehen und keine durchgeführt.«
»Entschuldigung, Dr. Pierce.«
»So sollen Sie mich doch nicht nennen, Clyde. Sagen Sie Henry zu mir. Aber lassen Sie mich mal raten: Sie haben Anweisung erteilt, nach mir Ausschau zu halten, und Rudolpho hat Ihnen sofort Bescheid gegeben, als ich herkam. Und deshalb sind Sie extra den weiten Weg von Ihrer Wohnung hierher gefahren. Ich kann nur hoffen, Sie wohnen nicht zu weit weg, Clyde.«
Vernon ging nicht auf Pierces saubere Deduktion ein.
»Wir müssen reden«, sagte er stattdessen. »Haben Sie meine E-Mail bekommen?«
Sie befanden sich im Anfangsstadium gegenseitigen Kennenlernens. Vernon war zwar der älteste Mitarbeiter von Amedeo, zugleich war er aber auch am kürzesten in der Firma. Pierce war nicht entgangen, dass Vernon Probleme damit hatte, ihn mit dem Vornamen anzusprechen. Vielleicht hatte es mit dem Altersunterschied zu tun. Pierce war der Vorstandsvorsitzende der Firma, aber mindestens zwanzig Jahre jünger als Vernon, der nach fünfundzwanzig Jahren beim FBI erst wenige Monate zuvor zu Amedeo gekommen war. Vernon fand es wahrscheinlich unangebracht, Pierce mit dem Vornamen anzusprechen, und wegen der großen Kluft in puncto Alter und praktischer Lebenserfahrung fiel es ihm schwer, ihn mit Mr. Pierce anzusprechen. Dr. Pierce – obwohl der Titel auf einer akademischen und nicht einer medizinischen Promotion basierte – schien ihm etwas weniger Probleme zu bereiten. Ihm schien allerdings vorzuschweben, ihn nach Möglichkeit gar nicht namentlich anzusprechen. Und das ging so weit, dass es auffiel, vor allem in E-Mails und Telefonaten.
»Ich habe Ihre E-Mail vor fünfzehn Minuten erhalten«, sagte Pierce. »Ich war zwischenzeitlich außer Haus. Ich hätte Sie wahrscheinlich angerufen, sobald ich hier fertig geworden wäre. Möchten Sie über Nicole reden?«
»Ja. Was ist passiert?«
Pierce zuckte hilflos die Achseln.
»Was passiert ist? Sie hat gekündigt. Sie hat ihre Stelle aufgegeben, und sie hat, äh, mich aufgegeben. Ich glaube, man
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